Donnerstag, 3. September 2015

Die Welt mit anderen Augen sehen

Als er später danach gefragt wurde, wusste er selbst kaum, wie er es erklären sollte. Die Menschen, die ihm nahestanden, hatten alle wissen wollen, wie und warum es passiert war. Doch er selbst kannte die Antworte darauf nicht. Er wusste nur, dass es so passiert war.

Er erinnerte sich, dass er an jenem Tag aufbrach, um zu wandern, wie er es jeden Tag tat. Erst war alles so wie gewohnt gewesen, er war sogar eine Strecke gegangen, die ihm hinreichend bekannt war. Doch er war so gedankenverloren und auf das Wanden fixiert, dass er nicht darauf achtete, wohin er eigentlich wanderte, und dann irgendwann feststellte, dass er nicht mehr wusste, wo er war.
Er blickte sich um, und stellte fest, dass alles aber schöner und intensiver zu sein schien. Die Blätter erstrahlten in einem satten grün, die Sonnenstrahlen wärmten und berührten ihn auf einer sanftere und angenehmere Art und Weise, selbst der Himmel schien klarer als sonst zu sein. Verwundert rieb er sich die Augen, dann schloss er sie. Er nahm die Umwelt mit seiner Nase wahr, auch die Gerüche waren intensiver, alles war irgendwie schöner.
Wohlig schritt er nun gemächlich den Weg entlang und sog die Eindrücke in sich hinein. Doch änderte sich nichts an der Situation, dass er nicht mehr wusste, wo er war, und das obwohl er gedacht hatte, jeden Weg bereits gegangen zu sein. Er kam an eine Kreuzung, auch hier war der Wald allumfassend und der Boden ausgetreten. Ihm gegenüber stand ein Pfahl mit Richtungsweisern und er studierte ihn aufmerksam. Dann sah er die Wege an, die er wählen konnte, und stellte fest, dass sein Wohlbefinden einer dumpfen Erwartung und einer kleinen Spur Angst gewichen war. Der Weg zu seiner Linken in Verbindung mit dem, was der Wegweiser ihm in Aussicht stellte, schien ihm wenig erstrebenswert. Über einen längeren Weg sollte er wieder zurück an den Ausgangspunkt geführt werden, es war also ein Umweg. Er besah den Weg und stellte fest, dass er unebener und steiniger war. Selbst mit seinen festen Stiefeln würde er also Probleme haben. Auch wirkten die Farben in einiger Entfernung nicht mehr so schön, und obwohl der Wald an sich sich nicht verändert haben konnte, wirkte er trostloser.
Der Weg zu seiner Rechten schien leichter zu sein. Er sah aus, wie jeder andere Weg auch, wirkte nicht einmal trostlos und er war sich sicher, dass er diesen Weg auch kannte.
Doch der Weg geradeaus hatte es ihm schon längst angetan. Er konnte fühlen, dass dieser Weg genauso besonders sein würde wie der, dem er hierher gefolgt war. Doch wusste er auch, dass er dann einem Weg folgte, der ihm unbekannt war. Er spürte, dass dieser Weg eine harte Herausforderung werden könnte, und fragte sich, ob er es nicht sogar bereuen würde, ihn einzuschlagen.
Er zog sein Handy aus der Jackentasche und rief einen Freund an, erzählte ihm, was vor ihm lag. Zu seiner Überraschung lachte der Freund und sagte ihm, er müsse seine Intuition entscheiden lassen, aber er könne ihm nur dazu raten, den unbekannten Weg zu gehen, da er es sonst bereuen könnte, wenn er den Weg nicht wählt und später nicht wiederfindet.
Seinem Herzen folgend wählte er also den Weg geradeaus, zurück war keine Option, er musste und wollte vorwärts kommen.
Also ging er geradeaus, folgte dem Weg ins Unbekannte. Er musste zugeben, dass es ihn ein wenig verängstigte, doch alles in ihm prickelte, er wollte es so. Sein Mut und seine Zuversicht schwollen an, er war sich auf einmal sicher, noch nie so viel Spaß beim Wandern gehabt zu haben.
Bis er dann eine traurige Gestalt am Rand des Weges traf. Er ließ sich neben der armen Gestalt nieder und fragte ihn, was er denn habe. Das verweinte Gesicht sah ihn an und sagte, es sei sinnlos weiterzugehen, er hätte kein Glück gehabt und wolle nun nicht mehr weitermachten.
Der Wandernde konnte ihn nicht verstehen und fragte sich, ob nur er die Welt um sich herum so wahrnahm, wie er es tat, oder ob er genauso enden würde, wenn ihn seine Zuversicht verließ. Gerade als er dem Weinenden helfen wollte, stand dieser auf und ging.
Stirnrunzeln blickte der Wandernde der traurigen Gestalt nach und merkte, dass ihn Angst und Pessimismus erfassten. Hatte die Gestalt recht gehabt? War es aussichtslos? Gedankenverloren betrachtete er den Weg, den er bereits zurückgelegt hatte und den, den noch vor sich hatte. Er wirkte steinig und schwer. Er hatte sich nicht geirrt, dieser Weg hatte seine Tücken. Aber was konnte ihm schon passieren? Im schlimmsten Fall gelangte er zu einer Sackgasse und würde sich eingestehen müssen, dass es dieser Weg nicht gewesen war, dass es hier für ihn nicht weiterging. Und im besten Fall entdeckte er eine neue Route, wuchs über sich selbst hinaus, und meisterte diese Herausforderung. Auch jetzt wollte er nicht umkehren. Er war sich sicher, dass er es durchziehen wollte.

Der Wandernde hatte Glück. Er erreichte sein Ziel, meisterte die Strecke und es war, als hätten sieben Wolken ihn über jedes Hindernis schweben und alles in einem anderen Licht erstrahlen lassen.
Noch oft wurde er gefragt, wie man diesen Weg erfolgreich meisterte, und jedes Mal wieder sagte er, dass man viel Glück und Willen brauche. Auch sagte er, dass nicht jeder Weg für jeden geeignet sei. Denn manchmal konnte schon ein kleiner Stein zur unüberwindbaren Hürde werden.

Doch warum ausgerechnet diese Strecke ihn so verzaubert hatte, vermochte er nicht zu sagen. Er war nun mal zufällig über sie gestolpert – und waren das nicht die besten Wege?

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