Sonntag, 13. September 2015

Das Rauschen des Meeres

Schön ist es hier. Wahrlich schön. Findest du nicht auch?“ Sie antwortet ihm nicht. „Ich finde, es ist wahrlich idyllisch. Dort hinten spiegelt sich der Mond, er strahlt wirklich schön heute Nacht. Findest du nicht auch?“ Wieder antwortet ihm nur das Schweigen. „Ich finde, es hat etwas Magisches, gar erfüllendes, dem Meer zu lauschen. Wie die Wellen heranrollen und sich dann am Strand brechen. Die Wellen sind ja auch nicht hoch, wären sie höher, wir würden nicht hier sitzen, nicht wahr?“ Er muss lachen, sie schweigt. „Weißt du, dass ich ein ausgesprochen talentierter Schwimmer und gutaussehender Surfer bin? Du hättest mich mal sehen sollen…“ Er verfällt kurz in Schweigen, guckt zu Boden. „Wenn dir kalt ist, musst du es mir sagen. Ich kann dir zwar nicht meine Jacke geben, dann wäre mir ja selbst kalt, das versteht du sicher, aber mir fällt schon etwas ein.“ Doch sie sagt nichts. Während er dort mit angezogenen Beinen im Sand sitzt, zuckt seine Hand hin und her. „Weißt du, so geht das nicht. Ich kann nicht die ganze Zeit alleine reden. Sag doch auch mal was. Das wird bestimmt lustig.“ Sie antwortet nicht, er nickt. Nickt immer heftiger, sagt nur: „Ja.“ Er guckt von links nach rechts und wieder zurück. Seine Hand zuckt wieder. „W-w-weißt du, was ich für dich empfinde? Es bedeutet mir so viel, dass du hier mit mir bist. Ja, das macht dich zu etwas ganz Besonderem.“ Er ist still, wartet auf eine Antwort. „Oh, gucke mal, wie schön die Sterne leuchten! Ich wette sie leuchten nur für uns.“ Doch sie sieht nicht hin, schweigt weiter. „Mädchen und ich, Frauen und ich, das hat noch nie so gut gepasst, weißt du? Keine hat bisher gesehen, was ich für ein netter Typ bin, wahrscheinlich haben sie mich einfach nicht verdient. Nein, sag jetzt nichts, sie konnten mir noch nie wehtun. Tief in mir wusste ich schon immer, dass es eine geben wird, die mich wertschätzt.“ Er nickt wie zur Bestätigung, doch von ihr kommt keine Antwort, sie schweigt. „Du bist diejenige, da bin ich mir ganz sicher. Ja, ja, ja, so muss es sein! Dass du und ich, wir, jetzt hier sind, hier! Am Strand! Das, das ist Zeichen, weißt du? Der Mond scheint so hell, die Sterne strahlen und das Meer, es klingt wundervoll.“ Er wartet, sie schweigt. Seine Hand rutscht vom Knie auf den Sand. Tastet sich zu ihrer Hand. Ergreift sie. „Deine Hand, sie ist ja ganz kalt! Du Dummerchen, warum sagst du denn nichts? Ich rede und rede und rede mit dir, doch du sagst nichts.“ Als sie wieder nicht antwortet, dreht er sich zu ihr um, sieht sie direkt an. „Deine Haut, sie ist ganz bleich! Geht es dir nicht gut? Kalt und bleich, warum schweigst du? Seit vorhin hast du nichts gesagt, warum schweigst du? Ich habe getan, was ich konnte, warum siehst du mich so anklagend an? Du bist wieder sauber, was willst du noch?“ Doch sie schweigt. Sie schweigt und sieht ihn nicht an. Er versucht ihre Hand zu öffnen, die sie zu einer Faust geballt hat. Doch die Finger lassen sich nicht bewegen. Sie sind schon lange kalt.

Donnerstag, 3. September 2015

Der Sprung

Spring! Spring! Spring! Spring!“ 
 
Die Menge hat ihren Rhythmus gefunden. Erst waren es nur Wenige, die üblichen Verdächtigen eben, die mich schon immer schikaniert und ausgegrenzt hatten. Sie hatten mir mein Buch genommen und gelacht, ich solle mal meinen fetten Arsch bewegen. Es wurden mehr und mehr, als nächstes stimmten die Freundinnen und die, die es gerne wären, in den Chor mit ein. So zog es seine Kreise.

Spring! Spring! Spring! Spring!“

Es ging mir nicht aus dem Ohr. Egal woran ich dachte, egal was ich sagte, ich kam nicht vom Felsvorsprung weg. Ich hatte es ihnen beweisen wollen. Ich war also aufgestanden, nahm all meinen Mut zusammen, und sagte ihrem Anführer ruhig, er möge mir das Buch wiedergeben. Doch er lachte nur.

Spring! Spring! Spring! Spring!“

Und so fasste ich einen Entschluss. Ich ging einen Weg hinauf, der zum höchsten Felsvorsprung am Badesee führte. Da hatte noch keiner geschrien, niemand gelacht, es waren auch noch keine Wetten abgeschlossen worden. Erstaunt hatten sie mir hinterher gesehen, nicht gewusst oder geglaubt, was ich vorhatte.

Spring! Spring! Spring! Spring!“

Ich stand dort oben, bestimmt 20 Meter über dem blauen See. Ich sah hinab und mir wurde schwindelig. Die Angst packte mich, ich wusste, ich würde es nicht packen. Anstatt es ihnen zu beweisen, würde ich endgültig zum Gespött. Ich drehte mich um, doch viele waren mir gefolgt, sie wollten das Spektakel aus nächster Nähe sehen. Am Strand und an anderen Felsvorsprüngen konnte ich sie sehen. Verachtete sie, weil sie gafften.

Spring! Spring! Spring! Spring!“

Keiner von ihnen war bisher von dieser Höhe gesprungen, doch ich hörte die ersten „Feigling!“ und „Versager!“ Rufe. Ich sah zu meinen Freunden hinab, sie waren nicht nach oben gefolgt. So wie ich waren sie Opfer, Ausgegrenzte, sie hätten befürchten müssen, die nächsten zu sein. Ich sah ihren Kummer, ihr Mitleid und ihre Machtlosigkeit. Ich konnte das Getuschel hören, Beträge, die abgeschlossen wurden.

Spring! Spring! Spring! Spring!“

Da hoffte ich, dass ich es mir nur einbilde, doch die Menge rückte näher, da bin ich mir mittlerweile sicher. Instinktiv machte ich einen Schritt zurück. Es fehlte nicht viel, ich wäre fast gefallen. Einen kurzen Moment wurde es still, einige schienen schockiert. Ob sie wohl realisierten, was sie mir antaten? Doch die Wichtigen und Coolen feuerten sie an. Sie wurden frenetischer als zuvor.

Spring! Spring! Spring! Spring! Spring! Spring! Spring! Spring!“

Sie kreischten und jubelten, als ich mich umdrehte und meine Muskeln anspannte. Meine Angst war riesengroß. Ich warte, flüsterte einmal gemeinsam mit der Menge „Spring!“.
Und sprang.
Der Sturz war schnell, auch wenn mir die Sekunden langsam vorkamen. Die Menge verstummte, raunte, jubelte, kreischte, drehte durch.

Erst spürte ich das kalte Wasser. Dann den schlimmsten Schmerz. Schließlich nur noch schwarze Leere.

Erinnerungen

Ich komme aus der Dusche, vom warmen Wasser sind die Scheiben und die Spiegel beschlagen. Ich wische über den Spiegel, doch was ich sehe, bin nicht ich. Moment, das bin ich, nur um Jahre jünger. Ich blinzle, das Spiegelbild ist wieder das Erwartete. Ich schüttele den Kopf, ziehe mich an, doch der Eindruck und der Gedanke verschwinden nicht. Ich mache mir einen Kaffee, lasse ihn aber stehen, und gehe zurück ins Badezimmer. Das ist es wieder, mein jüngeres Ich. Haar- und Augenfarbe sind die gleiche, mein Gesicht hat sich kaum verändert – schmaler ist es schon. Aus der Küche höre ich das Radio, es spielt diesen Song, den ich damals so geliebt habe. Erst lächele ich nur, dann muss ich schallend lachen. Für einen Moment rücken meine Aufgaben und Pläne für den Tag in den Hintergrund und ich muss an meine alten Träume denken. Einige sind noch immer die gleichen, andere konnte ich bereits in die Tat umsetzen. Ich gucke mein jüngeres Ich herausfordernd an und es reicht mir die Hand – ich ergreife sie und finde mich in einer Achterbahnfahrt der Erinnerungen wieder. Die Fahrt ist rasend schnell, viel ist geschehen, so wenig Zeit theoretisch vergangen. Ich sehe die Gesichter alter Freunde wieder, laufe mit ihnen an warmen Sommertagen durch son­nige Straßen, sitze am Laptop und schreibe mit einer guten Freundin, unterhalte mich mit meinem besten Freund über meine kleinen Geheimnisse und lache insgeheim über meine naiven Vorstel­lungen. Mit Höchstgeschwindigkeit fahre ich durch die halsbrecherischen Loopings meiner Vergan­genheit, gelange zu meinen Hoch- und von dort zu schnell zu meinen Tiefpunkten. Keuchend stehe ich wieder vor dem Spiegel und blicke mein Spiegelbild an. Ich sehe, dass es lächelt. Es hat ja auch Spaß gemacht. Ich gehe zurück in die Küche, der Kaffee ist noch heiß, im Radio läuft noch immer mein alter Lieblingssong, doch ist er in seinen letzten Zügen.
Melancholisch trinke ich einen Schluck Kaffee, den ich vor nicht allzu langer noch nicht so recht mochte. Wie jede Ach­terbahnfahrt war auch diese zu schnell vorbei, was bleibt, sind das gute Gefühl und die Frage, was aus all den Menschen geworden ist, deren Weg ich kreuzen durfte.

Das "Etwas"

Einst begab es sich, dass sich ein Jüngling aufmachte, die Welt zu erkunden und etwas zu finden, von dem er nur schemenhaft wusste, was er war, etwas, von dem er bisher nur in Erzählungen gehört hatte. 
 
Angefangen hatte Alles mit seinem Vater, der ihm sagte, es gebe da etwas, wofür es sich zu streben lohne. Der Jüngling war da noch im jungen Kindesalter, wusste diesen Rat nicht recht einzuordnen, vor allem weil sein Vater in das altbekannte Schweigen fiel, als er ihn danach fragte.
Den nächsten Hinweis hatten ihm Freunde geliefert, die sagten, sie würden spüren, dass da noch etwas auf sie warte, es etwas geben müsse, wofür es sich lohne zu leben, zu lernen, zu arbeiten und zu sterben. Das hatte ihn wieder angetrieben zu forschen, zu fragen, doch noch immer wusste er nicht, was dieses "Etwas" sein sollte.
Den letzten Rat hatte er von seinem Lehrer erhalten, der zu seiner Klasse sagte, man müsse reisen, um Großes und Vollkommenheit zu erreichen. 
 
So brach der Jüngling an seinem 18. Geburtstag auf, um dieses "Etwas" zu finden,  er überquerte die tiefsten Flüsse, sprang von den höchsten Wasserfällen, rannte durch die dichtesten Wälder, kämpfte mit den stärksten Bären, bestieg die höchsten Berge, arbeitete sich durch die dunkelsten Tunnel, sprach mit den intelligentesten Gelehrten, küsste und schlief mit den schönsten Frauen, doch musste er in den sieben Jahren seiner Reise feststellen, dass er nichts gefunden hatte, keinen Schatz, kein Wissen, keinen besonderen Ruhm und auch keinen Ruheort. 
 
Er kehrte zurück zu seinem Geburtsort, sprach mit seinen alten Freunden. Sie alle hatten etwas erlebt, einen Beruf gelernt, eine Frau gefunden, ein Haus gebaut und sogar schon Kinder in die Welt gesetzt.
Fragte er sie nach dem "Etwas", nach dem sie streben sollten und wollten, sagten sie alle, es gefunden zu haben, doch was ihn verwirrte, war, dass sie alle etwas anderes benannten: "Es ist eindeutig mein Hof!", "meine Frau!", "meine Tochter!", "Geld!", "Leben!", "Familie!".
Nach diesen Gesprächen nahm der junge Mann nachdenklich platz, keiner von ihnen hatte erlebt oder geschafft, was er aus seinem Leben gemacht hatte, sie waren nicht gereist, hatten nicht versucht, Großes zu erreichen, und trotzdem meinten sie, vollkommen zu sein
 
Er entschied sich, einen letzten Versuch zu wagen, und seinen Vater zu fragen, was dieser vor nun zwanzig Jahren gemeint habe, er musste es wissen.
Seine Familie freute sich sehr, ihn zu sehen, doch hatte er kaum Ruhe und Rast, um die beiden kleinen Zwillinge zu betrachten, die er als Schwestern bekommen hatte, sondern setzte sich mit seinem Vater. Erst schwiegen sie, bis der junge Man platzte, ihm alles erzählte, bis ins kleinste Detail, und ihn abschließend fragte, was er falsch gemacht habe. Sein Vater starrte ihn an, brummte, zündete sich eine Zigarette an, wie er es so oft tat, und schwieg, schwieg, schwieg. Der junge Mann wollte schon aufgeben, sich erheben, seine neuen Geschwister kennenlernen, als sein Vater ihm am Arm festhielt und sagte, es gebe keinen Gegenstand, den er finden, keinen Ruhm, den er erlangen, und auch keine Eigenschaft, die er sich aneignen könne, die das Leben ausmache.
Erschüttert setzte sich der junge Mann, war alles vergeblich gewesen? Doch erkannte er und war froh, dass sein Vater schwieg. Das, was ihn ausmachte, war nicht dort draußen in der Welt, es war bereits in ihm.

Drei Tage später brach er wieder auf, denn das Abenteuer war dieses "Etwas", das er immer finden wollte.

Ich will nur dein Gesicht sehen

Wie schnell darf ich hier fahren? 120. Geht in Ordnung. Vor mir? Alles frei... hinter mir auch. Ziemlich leer hier, sonst sind hier mehr Idioten. Wonach riecht sie bloß? Süßlich frisch und angenehm... nicht mal mein Bäumchen kann ich mehr riechen. Muss ich nicht schon die nächste Abfahrt nehmen? Nein, nein, noch sehe ich keine Möwen, aber dann, dann schmecken wir das Meer. Was denkt sie jetzt von mir? Hätte sie lieber einen anderen bei sich? Ich kenne sie kaum, aber sie scheint mich zu mögen, wäre sie sonst mitgekommen? Wo habe ich meine Sonnenbrille, die Sonne steht bereits so tief... ihre Haare glitzern wie Gold, habe ich je etwas so Schönes gesehen? Warum guckt sie die ganze Zeit aus dem Fenster? Sieh mich an! Schenke mir ein Lächeln! Aber warum schreit sie auf einmal so? Ich bin bereit zu bremsen, ich will nur de

Irgendwann an Weihnachten...

...begab es sich, dass sich ein Hasenjunges, ein Rehkitz, ein Eichhörnchen, ein Fuchs und ein Vogel gemeinsam von einem Wald aus aufmachten, um das Geheimnis hinter der angeblichen Magie der menschlichen Weihnacht zu ergründen.

Es schneite nun schon seit ein paar Tagen, auch als die fünf Kameraden den Wald hinter sich gelassen hatten und den ersten Garten erreichten, schneite es. Eigentlich war es bereits dunkel und im Wald hätten sie nicht mehr viel tun können, in diesem kleinen Vorort aber war es noch taghell und alles leuchtete, blinkte und erstrahlte in rot, orange, weiß und komischerweise sogar in blau.

Es war nicht der erste Ausflug dieser Art für das Hasenjunges, es hoppelte vor und hielt seine Freunde an, sich zu beeilen, die Menschen seien eh gerade mit Essen beschäftigt und sie könnten ruhig die Hauptstraße benutzen.
Für das Rehkitz war das allerdings gar nicht so einfach, der Neuschnee hatte die Straßen schon bedeckt, und es bewegte sich staksig durch den Schnee, rutschte hin und wieder auf einem glatten Teilstück aus, und fiel dann in die großen Schneehaufen an den Seiten der Straße. Auch wenn das Eichhörnchen seinen Freund jedes Mal auslachte und dafür mit bösem Gezwitscher des Vogels quittiert wurde, hatte es das Ganze doch nicht besser hinbekommen, und hatte es sich auf dem Rücken des Fuchs gemütlich gemacht, der der älteste von ihnen war, und dazu neigte, sich häufig besserwisserisch und idiotisch zu benehmen. Sie hatten sich bis zu einem besonders kitschigen Vorgarten durchgekämpft, als der Fuchs ansetzte: „Wisst ihr, die Menschen, die sind doch bekloppt, dass sie das Alles machen. Es ist schrill, nervig und teuer! Die ganzen Stromkosten, diese dummen Geschenke, was soll ihnen das bringen? Das ist doch...“ Der Fuchs unterbrach erschrocken seinen Satz und machte jäh einen Satz zur Seite, sodass das Eichhörnchen samt seinen Nüssen von seinem Rücken flog und wie das Rehkitz gefühlte tausendmal zuvor in einem Schneehaufen landete. Das Rehkitz und der Vogel hatten sich hinter einer Hecke versteckt, nun sahen sie auf, und erkannten, was den Fuchs so erschreckt hatte: Als sie das Grundstück betreten hatten, mussten sie an so einem Bewegungsmelder vorbeigekommen sein, den die Menschen so toll fanden, und hatten einen riesigen Schlitten samt Rentiergespann und Weihnachtsmann, welcher nun „HO-HO-HO“ sagte, zum Leben erweckt. Nur das Hasenjunge ließ sich nicht beeindrucken und lachte im Angesicht der Tollheit seiner Kameraden auf: „Das ist nur weitere Dekoration, das soll den dicken Weihnachtsmann samt Beförderungsmittel darstellen... die neuesten Modelle haben eingebaute Lautsprecher, die angehen, sobald jemand in die Nähe kommt.“ Das Hasenjunge beäugte das Rehkitz, „wenn ich mir dich so ansehe, hätte er lieber Hasen nehmen sollen, die sind nicht so schreckhaft.“, frotzelte es. Das Rehkitz schüttelte sich, kam hinter der Hecke hervor. sah ihn böse an, setzte dann zu einer Antwort an, überlegte es sich dann aber anders und brach in ein schallendes Lachen aus, als sich das Hasenjunge wegen dem Vogel erschreckte, der leise hinter ihn geflogen war, und ihn nun in einem Sturzflug zu Boden geworfen hatte.

Vergnügt zogen sie weiter, wunderten sich aber mehr und mehr, wo denn alle Menschen seien, zumindest Kindern hätten sie doch begegnen müssen, es schneite schließlich. Doch es war niemand da, und die Lichter, die zu Anfang noch eine gemütliche Atmosphäre erzeugt hatten, wirkten nun kalt und abweisend. Das Eichhörnchen sprach es dann quiekend an: „Wo sind denn alle? Wie sollen wir Weihnachten verstehen, wenn die Erfinder gar nicht hier sind? Ich dachte immer, zu dieser Zeit sei alles laut und bunt, voller im Schnee spielender Kinder, Kutsche fahrender Erwachsenen und dem Duft von Plätzchen... bunt ist es ja, aber ohne die Menschen ist alles eher plump und unbequem, oder?“ Als Antwort bekam es ein zustimmendes Grunzen von seinen Freunden und sie setzten ihren Weg fort.

Sie entschieden sich, offensiver vorzugehen, musterten Vor- sowie Hintergärten, schrien und brüllten, ja, blickten sogar vorsichtig durch ein Fenster: Der Fernseher lief noch, sie konnten ein gemütliches Wohnzimmer samt weihnachtlicher Dekoration und einem Fernseher sehen, dessen Bild eingefroren war, es schien, als hätte sich wer-auch-immer vor seinem Verschwinden einen Film oder eine Serie angesehen, zumindest war es das, was der weitsichtige Fuchs auf einem Tisch erkennen konnte.

Ratlos zogen sie weiter und entdeckten irgendwann ein Kaufhaus. Ihnen war kalt, und da sie bisher keinem Menschen begegnet waren, fürchteten sie auch nicht, dass sie jetzt einem begegnen könnten. Die Tür öffnete sich und sie betraten ein riesiges Gebäude mit Fahrstühlen, Gängen, Treppen und kleinen Verkaufsräumen. Hier war es nicht mehr still, es lief Weihnachtsmusik und sie fanden ein Podium mit anscheinend zu signierenden Büchern von einem vermutlich berühmten Autoren, zumindest war das Podium von Hinweisschildern auf ein bestimmtes Buch von ihm umringt und es lagen diverse Ausgaben und Stifte auf dem Boden. Das Eichhörnchen beäugte die Bücher misstrauisch und meinte: „Warum kaufen die sich noch Bücher? Ich habe immer weniger Bäume zum Hüpfen und die schmeißen sie einfach weg. Als E-Book ist das doch viel praktischer, findet ihr nicht auch?“

Der Fuchs schüttelte den Kopf und meinte dann: „Was macht bei den Menschen überhaupt Sinn? Ohne die Geschenke wäre dieses Weihnachten nicht dasselbe. Die meisten Kinder denken doch einfach nur an die Bescherung, aber verkauft wird es als das Fest der Liebe, der Besinnung, gar als Gedenken an die Geburt Christi, der übrigens über das Wasser gelaufen sein soll, die sind doch verrückt! Wenn ihr mich fragt, ist Weihnachten ein rein kommerzielles Geschäft, wäre es anders, müssten sie doch nicht so einen Aufwand betreiben.“ Aufgrund dieser Feststellung, die schwer zu widerlegen schien, zogen die Tiere mürrisch durch das Kaufhaus, selbst die Leckereien, für die sie sonst größte Gefahren auf sich genommen hätten, wenn es mal welche im Wald gab, würdigten sie keines Blickes mehr.

Sie verließen das Kaufhaus durch den anderen Eingang und betraten einen Parkplatz, der voll von Autos war. An den Parkplatz grenzte eine künstliche Eislaufbahn, und die Freunde nutzen die Gelegenheit, diese ausgiebig auszutesten und so die schlechte Laune zu vertreiben. Der Fuchs erzählte ihnen, die Menschen würden so etwas machen, da die Seen und Flüsse zwar nicht mehr gefrieren würden, sie sich den Spaß am Eislaufen aber nicht nehmen lassen wollen würden. Als sie es endlich geschafft hatten, die künstliche Eisfläche zu verlassen, machten sie sich auf den Rückweg in ihren Wald. Trotz der lustigen letzten halben Stunde mochte keiner was sagen, sie hatten immer noch nicht verstanden, was an Weihnachten so toll sein sollte, und sie ahnten, dass sie mittlerweile so lange weg gewesen waren, dass ihnen ihre Eltern eine Standpauke halten würden, die sie so schnell nicht vergessen würden.

Sie schlichen förmlich durch die Straßen, die nun mit komplett mit Schnee bedeckt waren, und es schneite unerbittlich weiter. Das Hasenjunge versank fast bis zum Oberkörper im Schnee und ihnen war kalt, und so kam es, dass ihnen eine kleine Veränderung fast nicht aufgefallen wäre, aber der Vogel war aufmerksam gewesen, und meinte: „Seht, dort im dem Haus, da sind Menschen!“ Vorsichtig rannten sie zu einem Fenster und sahen gespannt in eine Küche.

Dort sahen sie zwei kleiner Kinder mit Ausstechformen um einen Tisch rennen, während eine anscheinend schwangere Frau einen Teig ausrollte und ein Mann sich ein wenig vom Teig stahl. Ein anderes Fenster in der Nähe war geöffnet und sie hörten leise Weihnachtsmusik in der Luft, es piepte laut auf, und der Mann holte die ersten fertigen Kekse aus dem Ofen. Es duftete vorzüglich und den Freunden wurde angenehm mulmig beim Anblick dieser familiären Idylle. Eines der Kinder erblickte sie und lachte vergnügt. Selbst der vorher so kritische Fuchs war berührt. Als sie sich abwandten, sahen sie eine vollkommen neue Situation:

Überall waren plötzlich lachende und grölende Kinder, Schneebälle flogen durch die Luft, Schneemänner wuchsen empor, Schlitten mit jauchzenden Kindern wurden von Vätern und größeren Geschwistern durch die Straßen gezogen und sogar eine Kutsche kreuzte ihren Weg. „Fehlt ja nur noch die Musik aus dem Kaufhaus, dann wäre es wie im Film“, zwitscherte der Vogel ironisch, woraufhin der Fuchs ihn strafend ansah und meinte: „Sei still, du machst die schöne weihnachtliche Atmosphäre kaputt. Er wandte sich zum Rehkitz und meinte: „Tony, du musst jetzt echt aufstehen, du kommst zu spät zur Schule.“

Tony schlug seine Augen auf, er befand sich in seinem Zimmer, in seinem warmen Bett. Er rieb sich die Augen und sah auf den Wecker. WAS?! SCHON SIEBEN?! Er musste sich wirklich beeilen. Sein Vater war bereits verschwunden und er setzte sich auf. Dann kam die Erinnerung. Am Tag zuvor hatte er sich mit seinen Eltern gestritten, weil sie ihm ein gewisses Geschenk verweigerten. Jetzt ärgerte er sich, sie schenkten ihm und seiner Schwester Klara doch bereits so viel. Er sprang auf und rannte durch das gesamte Haus zu seiner Mutter und fiel ihr in die Arme. „Es tut mir so leid, was ich gestern gesagt habe, Mutti. Bitte sei mir nicht mehr sauer.“ Die Mutter fuhr im liebevoll durch die Haare und meinte: „Mach zu, Tony, vergiss nicht, nach der Schule wollen wir noch Kekse backen...


Zehn Rosen

Es begab sich einst, dass sich ein Jüngling auf den Weg machte, und in ferne Gegenden zog, da er hoffte, dort in die Lehre eines Gärtners gehen zu können, der im Umgang mit den Pflanzen der wohl geschickteste und erfolgreichste seiner Zunft war.

Als er den Gärtner traf, wusste er, dass es dieser sein musste, dieser und kein anderer, der ihm diese Kunst beibringen sollte. Sein von ihm gewählter Meister war hingegen erst skeptisch, sagte, der Jüngling sei viel zu erpicht.
Er führte ihn in einen verborgenen Teil des Gartens und der Jüngling erblickte ein riesiges Feld wuchernden Grases. Sein erwählter Meister gab ihm einen Spaten und den Auftrag, die Fläche abzustechen und umzugraben. Er selbst steckte sich eine Pfeife an und sah dem Jüngling bei seinen ersten Spatenstichen zu, er war wohl sehr motiviert, und kam gut voran, sodass der Gärtner seine Pfeife wieder einsteckte und sich seiner Arbeit widmete.
Er hatte dem Jüngling auch einen Platz in seinem Haus gegeben, und als der Jüngling ihn abends beim Essen sah, wusste er, dass er seine Verzweiflung in Angesicht dieser Mammutaufgabe würde zügeln müssen, um hier zu bestehen, und gedachte, voreilig aufzugeben. Der Gärtner betrachtete ihn eine Weile, sagte jedoch nichts.
Noch bevor sein neuer Meister kam, um ihn zu wecken, war er bereits wach und ohne Frühstück auf dem Feld gewesen. Nun musste er auch sich beweisen, dass er dieser Kunst würdig war, hatte er sich selbst gesagt, und mechanisch seine Aufgabe erfüllt.
Die Sonne war längst aufgegangen, als der Gärtner den Jüngling im Garten fand, und der Jüngling sah, dass dieser sein Erstaunen kaum zurückhalten konnte. Er winkte den Jüngling mit sich und dieser sollte eine schwere Tüte voller Samen aus einem Schuppen zum Feld schaffen. Der Jüngling war sich sicher, noch nie so schwer getragen zu haben, und als er es geschafft hatte, gab es kein Zeichen der Anerkennung, nicht ein Wort sprach sein Meister, doch es lagen eine kleine Schaufel und abgenutzte Handschuhe bereit.
Der Jüngling erkannte, was von ihm verlangt wurde, doch wusste er nicht, wie er es tun sollte. Er starrte die Erde einfach nur an, der Gärtner bekam schnell genug und ging. Der Jüngling wusste, dass er ihn enttäuschte, doch hatte er keine Idee und abends aß er nur einen kleinen Bissen, bevor er sich schlafen legte.
Nun ließ er sich von seinem Meister wecken, aß etwas, trank etwas, und begab sich zum Beet, und als er es nun sah, fragte er sich, warum er es nicht gleichmäßig versuchen sollte. Schnell holte er aus dem Schuppen eine Harke und teilte sich das Feld ein, nahm Samen um Samen und bettete ihn in das Erdreich. Dann besorgte er sich eine Kanne, und lief zum Brunnen und zurück, Mal um Mal, bis jeder Samen ein wenig Wasser erhalten hatte. Der Gärtner war indessen zu ihm gestoßen und schien besänftigt und sprach gar seine ersten Worte seit einer längeren Zeit, der Jüngling habe sich als würdig erwiesen, doch was wolle er bezwecken? Der Jüngling stutzte und meinte: „Ich möchte hier ein Feld voller Blumen heranwachsen lassen, sodass wir sie verkaufen können.“ Der Gärtner nickte nur und ging.
In den folgenden Wochen bekam der Jüngling andere Aufgaben, erfuhr einige Grundlagen, doch jeden Tag sah er nach seinem Beet.

Nach einiger Zeit war es soweit, die ersten kleinen Pflanzen sprossen aus dem Boden und der Jüngling sollte sich nun um diese kümmern. Bevor er allerdings anfing, fragte der Meister ihn, was dies für eine Pflanze sei, und welche Farbe die Blüten haben würde. Der Jüngling war verwirrt, er erinnerte sich, dass es verschiedene Arten einer Rose gewesen waren, mittlerweile wusste er also, was er ausgesät hatte. Doch woher sollte er wissen, wie diese Rose später aussehen würde? Dann fragte ihn der Meister nach Größe, Lebensdauer und Schönheit. Der Jüngling konnte nur die Schultern zucken und sein Meister ging mit grimmiger Miene weg. Wieder hatte er ihn enttäuscht.
Er versuchte alles, um das auszugleichen, kümmerte sich um die zarten Pflänzchen, doch sie konnten sich nicht bewähren. Viele gingen ein, und er ging zu seinem Meister und fragte ihn kleinlaut um Rat.
Dieser lächelte das erste Mal seit langem und nahm ihn mit zu seinem Beet, und erklärte ihm, er müsse sich dem jeweiligen Pflänzchen anpassen. Der Jüngling sollte die kleinen Pflänzchen an die sonnigste Stelle umpflanzen und nun wieder sagen, was er erwarte. Er betrachtete die verbliebenen Pflänzchen, zweifelsohne waren sie stärker und somit würdiger als die anderen gewesen, doch welche würde die Schönste werden? „Ich denke“, sagte der Jüngling, „dass sie alle von atemberaubender Schönheit sein werden. Sie werden groß und stark sein und selbst härteste Winter überstehen, wenn man sich gut um sie kümmert.“ Er betrachtete die Pflänzchen erneut und zeigte auf eine: „Das soll meine Rose werden, sie soll die prächtigste, stärkste und kostbarste sein.“

Er sollte sich nicht irren: Als er seine Ausbildung so gut wie abgeschlossen hatte, gingen er und sein Meister zurück, aus den zarten Pflänzchen waren ansehnlich Rosen geworden, reiche Kaufleute, treue Kunden des Gärtners, standen bereits Schlange, um für eine horrende Summen auszugeben.
Der ehemalige Jüngling, der nun ein ehrbarer junger Mann war, wusste, dass dies seine Bewährungsprobe werden sollte und betrachtete die Rose, die er vor drei Jahren erwählt hatte. Für ihn war sie wahrlich die schönste aller Rosen, schöner noch als die besten des Meisters. Doch hatte er Angst, er würde nicht bestehen, schließlich wusste er, dass der Meister und die Kaufleute andere Favoriten hatten. Er sah seinen Meister an, welcher zufrieden lächelte, und sagte: „So kann ich nun deine Ausbildung für abgeschlossen erklären, du hast zehn wahrlich schöne Rosen herangezüchtet, und auch wenn du dich im Vorfeld für eine entschieden hattest, welche ab heute dein sein soll, hast du sie alle gepflegt und einer prachtvollen Rose angemessen behandelt. Das ist es, was einen Meister dieses Handwerks, dieser Kunst, ausmacht: Jede Rose zu behandeln, als sei sie die schönste, die die Welt je erblickt hat.“

Die Welt mit anderen Augen sehen

Als er später danach gefragt wurde, wusste er selbst kaum, wie er es erklären sollte. Die Menschen, die ihm nahestanden, hatten alle wissen wollen, wie und warum es passiert war. Doch er selbst kannte die Antworte darauf nicht. Er wusste nur, dass es so passiert war.

Er erinnerte sich, dass er an jenem Tag aufbrach, um zu wandern, wie er es jeden Tag tat. Erst war alles so wie gewohnt gewesen, er war sogar eine Strecke gegangen, die ihm hinreichend bekannt war. Doch er war so gedankenverloren und auf das Wanden fixiert, dass er nicht darauf achtete, wohin er eigentlich wanderte, und dann irgendwann feststellte, dass er nicht mehr wusste, wo er war.
Er blickte sich um, und stellte fest, dass alles aber schöner und intensiver zu sein schien. Die Blätter erstrahlten in einem satten grün, die Sonnenstrahlen wärmten und berührten ihn auf einer sanftere und angenehmere Art und Weise, selbst der Himmel schien klarer als sonst zu sein. Verwundert rieb er sich die Augen, dann schloss er sie. Er nahm die Umwelt mit seiner Nase wahr, auch die Gerüche waren intensiver, alles war irgendwie schöner.
Wohlig schritt er nun gemächlich den Weg entlang und sog die Eindrücke in sich hinein. Doch änderte sich nichts an der Situation, dass er nicht mehr wusste, wo er war, und das obwohl er gedacht hatte, jeden Weg bereits gegangen zu sein. Er kam an eine Kreuzung, auch hier war der Wald allumfassend und der Boden ausgetreten. Ihm gegenüber stand ein Pfahl mit Richtungsweisern und er studierte ihn aufmerksam. Dann sah er die Wege an, die er wählen konnte, und stellte fest, dass sein Wohlbefinden einer dumpfen Erwartung und einer kleinen Spur Angst gewichen war. Der Weg zu seiner Linken in Verbindung mit dem, was der Wegweiser ihm in Aussicht stellte, schien ihm wenig erstrebenswert. Über einen längeren Weg sollte er wieder zurück an den Ausgangspunkt geführt werden, es war also ein Umweg. Er besah den Weg und stellte fest, dass er unebener und steiniger war. Selbst mit seinen festen Stiefeln würde er also Probleme haben. Auch wirkten die Farben in einiger Entfernung nicht mehr so schön, und obwohl der Wald an sich sich nicht verändert haben konnte, wirkte er trostloser.
Der Weg zu seiner Rechten schien leichter zu sein. Er sah aus, wie jeder andere Weg auch, wirkte nicht einmal trostlos und er war sich sicher, dass er diesen Weg auch kannte.
Doch der Weg geradeaus hatte es ihm schon längst angetan. Er konnte fühlen, dass dieser Weg genauso besonders sein würde wie der, dem er hierher gefolgt war. Doch wusste er auch, dass er dann einem Weg folgte, der ihm unbekannt war. Er spürte, dass dieser Weg eine harte Herausforderung werden könnte, und fragte sich, ob er es nicht sogar bereuen würde, ihn einzuschlagen.
Er zog sein Handy aus der Jackentasche und rief einen Freund an, erzählte ihm, was vor ihm lag. Zu seiner Überraschung lachte der Freund und sagte ihm, er müsse seine Intuition entscheiden lassen, aber er könne ihm nur dazu raten, den unbekannten Weg zu gehen, da er es sonst bereuen könnte, wenn er den Weg nicht wählt und später nicht wiederfindet.
Seinem Herzen folgend wählte er also den Weg geradeaus, zurück war keine Option, er musste und wollte vorwärts kommen.
Also ging er geradeaus, folgte dem Weg ins Unbekannte. Er musste zugeben, dass es ihn ein wenig verängstigte, doch alles in ihm prickelte, er wollte es so. Sein Mut und seine Zuversicht schwollen an, er war sich auf einmal sicher, noch nie so viel Spaß beim Wandern gehabt zu haben.
Bis er dann eine traurige Gestalt am Rand des Weges traf. Er ließ sich neben der armen Gestalt nieder und fragte ihn, was er denn habe. Das verweinte Gesicht sah ihn an und sagte, es sei sinnlos weiterzugehen, er hätte kein Glück gehabt und wolle nun nicht mehr weitermachten.
Der Wandernde konnte ihn nicht verstehen und fragte sich, ob nur er die Welt um sich herum so wahrnahm, wie er es tat, oder ob er genauso enden würde, wenn ihn seine Zuversicht verließ. Gerade als er dem Weinenden helfen wollte, stand dieser auf und ging.
Stirnrunzeln blickte der Wandernde der traurigen Gestalt nach und merkte, dass ihn Angst und Pessimismus erfassten. Hatte die Gestalt recht gehabt? War es aussichtslos? Gedankenverloren betrachtete er den Weg, den er bereits zurückgelegt hatte und den, den noch vor sich hatte. Er wirkte steinig und schwer. Er hatte sich nicht geirrt, dieser Weg hatte seine Tücken. Aber was konnte ihm schon passieren? Im schlimmsten Fall gelangte er zu einer Sackgasse und würde sich eingestehen müssen, dass es dieser Weg nicht gewesen war, dass es hier für ihn nicht weiterging. Und im besten Fall entdeckte er eine neue Route, wuchs über sich selbst hinaus, und meisterte diese Herausforderung. Auch jetzt wollte er nicht umkehren. Er war sich sicher, dass er es durchziehen wollte.

Der Wandernde hatte Glück. Er erreichte sein Ziel, meisterte die Strecke und es war, als hätten sieben Wolken ihn über jedes Hindernis schweben und alles in einem anderen Licht erstrahlen lassen.
Noch oft wurde er gefragt, wie man diesen Weg erfolgreich meisterte, und jedes Mal wieder sagte er, dass man viel Glück und Willen brauche. Auch sagte er, dass nicht jeder Weg für jeden geeignet sei. Denn manchmal konnte schon ein kleiner Stein zur unüberwindbaren Hürde werden.

Doch warum ausgerechnet diese Strecke ihn so verzaubert hatte, vermochte er nicht zu sagen. Er war nun mal zufällig über sie gestolpert – und waren das nicht die besten Wege?

Der Umgang mit der Angst

Es gab einmal einen jungen Erwachsenen, der das Segeln über alles liebte und vor keiner Herausforderung zurückschreckte. 
Doch es kam der Moment, der früher oder später immer kommen musste: Der junge Mann segelte eine Strecke, die er zu kennen dachte, und wurde von der rauen See überrascht, die ihn kurze Zeit später fast kentern ließ. Er fühlte sich ausgeliefert und entkam den Unheil nur knapp. Als er im sicheren Hafen ankam, war er vollkommen außer Atem, denn so eine Situation hatte er vorher noch nicht erlebt. Natürlich waren ihm die Risiken gewusst gewesen, sein Mentor hatte ihn gewarnt, dass es so kommen könnte, er hatte sogar versucht seine Warnung zu berücksichtigen, und doch wäre beinahe genau das passiert, wovor er gewarnt worden war. Es erschütterte ihn und nahm ihm für eine Zeit jegliche Selbstsicherheit. Seine Kameraden und Mentoren hatten ihn ermutigt und spekuliert, er würde sich bald wieder an neue Herausforderungen herantrauen. Doch es dauerte, bis er sich wieder bereit fühlte. 

Während seine Kameraden neue Gewässer ausprobierten und dabei teilweise kläglich scheiterten, widmete er sich bekannten und ruhigen Gefilden. Er probierte nichts aus, denn er war überzeugt, dass er auch dort genug Erfahrungen würde sammeln können, denn er wusste, dass er erst einmal seine Selbstsicherheit zurückerlangen musste. Doch mit der Zeit erkannte er, dass ihm die Herausforderung fehlte, dass er sich wieder an Neues herantasten wollte. Und so geschah es, dass er beim Segeln eine neue Strecke ausprobierte, die ihn vor neue Herausforderungen stellte, welche er gut meisterte. Er fand wieder mehr zu seinem alten Mut. Segeln war nicht mehr nur eine Routine, es machte ihm wieder mehr und mehr Spaß. Doch er erkannte, dass er sich der Route, an der er scheiterte, noch einmal würde stellen müssen, um nicht mehr nur ein Schatten seiner Selbst zu sein. Wieder und wieder weckte ihn die Route aus seinem Träumen, sein Scheitern verfolgte ihn.
Also stellte er sich seiner Angst, die bisher über ihn lachte. Er war wieder und wieder über sich hinausgewachsen und auch dieses Mal würde er es schaffen.

Er schnappte sich sein Boot, machte die Leinen los, fuhr hinaus auf das unruhige Meer, weiter, immer weiter, bis er die Stelle erreichte, an der er gescheitert war. Auf einmal erinnerte er sich besser an das, was damals passiert war, die Angst überfiel ihn. Doch er war bereit. Er machte weiter, umfuhr die schwierigen Stellen und erkannte, dass er es damals nicht hätte besser machen können. Dies war eine schwierige Stelle, an der selbst einige gescheitert wären, die weitaus mehr Erfahrung hatten als er, denn er hatte sich nie Illusionen hingeben: Er war ambitioniert, ja, aber er war nicht perfekt, er war, wenn man ihn mit anderen verglich, irgendwie immer noch eine Art Anfänger. Als er die schwierigen Stellen hinter sich hatte, ließ er sich treiben und atmete erleichtert aus. Auf einmal fühlte er sich wie besser.
Als er die nächsten Tage den Hafen verließ, merkte er, wie die Leichtigkeit und das Selbstbewusstsein, die er so lange vermisst hatte, zurückkehrten. Ja, es hatte ihm viel Spaß gemacht, aber so war es unbeschreiblich schön. Es fühlte sich fast so an, als hätte er vergessen gehabt, wie schön das Segeln wirklich sein kann.

Er lächelte. Es würden neue Gefahren und Herausforderungen auf ihn zukommen, doch auch sie würde er meistern. Er hatte sich seiner größten Angst, die ihn so lange verfolgt hatte, gestellt, seinen Dämonen besiegt. Er hatte das Gefühl, endlich wieder er selbst und nicht mehr nur sein Schatten zu sein.

Früher war alles besser...

Eines Mittags kam ein junges Kind weinend nach Hause. Die Eltern wunderten sich, fragten, was passiert sei. Das Kind beschwerte sich, der Tag sei nicht so schön gewesen wie der Tag zuvor, und erst recht nicht so schön wie derselbe Tag ein Jahr zuvor. Die Eltern waren verwundert, wussten erst nicht, was sie darauf antworten sollten. Nach einiger Zeit kam ihnen die Idee, dem Kind eine Geschichte zu erzählen:

Es gab einmal einen Maler, der so viel Spaß am Malen hatte, dass er die schönsten Bilder malte, und mit der Zeit erkannte, dass er, je schöner das Bild war, auch desto mehr Spaß am Malen hatte und damit auch noch erfolgreicher wurde. Allerdings geschah das, was früher oder später immer geschehen musste: Ein Bild, von dem er sich so viel erhofft hatte, sollte einfach nicht so werden, wie er sich das vorstellte. Je länger er am Bild arbeitete, desto weniger Spaß machte ihm das Malen, und als das Gemälde fertig war, klopften ihm Kunstkenner nur auf die Schulter, und sagten, beim nächsten Mal werde es wieder besser. Das machte ihn so traurig, dass er erst gar nicht mehr malen wollte, und als er es doch wieder tat, ähnelten die Bilder seinen älteren Werken. Sie waren schön, keine Frage, doch verlor er sich mehr und mehr in einer Eintönigkeit, bis er irgendwann verkündete, dass er nie mehr ein anderes Bild malen wolle.
Doch es kam der Tag, an dem er feststellte, dass er das Problem damit nicht gelöst, sondern sich nur vor ihm versteckt hatte. Wütend trat er nach den Farbeimern und Pinseln, die Farbe ergoss sich im ganzen Raum und einige Leinwände wurden bespritzt. Er lachte. Das hatte er noch nie so gemacht. Aber es gefiel ihm. Es machte ihm Spaß.
Die Kunstkritiker waren nicht von jedem Bild begeistert, doch das war ihm egal, denn er hatte erkannt, dass es nicht darauf ankam, wie sie es fanden. Er hatte erkannt, dass zwar nicht jedes Bild gut werden konnte, aber dass sie alle besonders waren, und dass er sich nicht an alte Werke zu klammern brauchte.

Als die Eltern mit ihrer Geschichte fertig waren, sah sie das Kind mit großen Augen an, die heiße Schokolade war bereits leer, und es begann nachdenklich zu gucken. Dann lachte es und meinte, dass sie der Maler sei und sie morgen einfach nur ein neues Bild malen müsse, dass ihr Spaß bereite. Auch das große Geschwisterkind hatte die Geschichte gehört und dachte sich im Stillen, dass es aufhören werde, sich von den Kritikern den Tag verderben zu lassen.

Die Straße in der Wüste

Wie ich dort lande, weiß ich nicht. Ich stehe einfach dort und die Straße ist unendlich lang. Und am Anfang ist sie immer geradeaus. Wenn ich zurückblicke, kann sie exakte Konturen annehmen und endet im Horizont, richte ich meinen Blick nach vorne, ist es, als sähe ich eine Fata Morgana. Ich kann eine Straße erahnen, doch ist dort keine, weil sie noch von Sand bedeckt ist.
Wenn ich zurückgehe, dann verändert sich die Straße. Sie ist nicht mehr gerade, sie hat Kurven, Abzweigungen und auch einige wenige Schlaglöcher. Ich kann einer Abzweigung folgen, dort gibt es mehr als nur den Sand und die Straße. Es gibt ein Museum, eine Anlage, eine Küche, ein Theater, ein Kino, Bücher und andere verschiedene Dinge. Wenn ich ins Museum gehe, kann ich dort Bilder, Skulpturen, Monumente und Gemälde bestaunen. Trete ich zum Beispiel nahe an ein Bilder heran, kann ich sehen, was vorher kam, und was nach der Szene geschah. Doch die Dinge im Museum sind bewusst unbewegt. Sie sollen eben nur diesen einen Moment einfangen. Alle Ausstellungsstücke stellen etwas besonderes dar, und wenn ich sie sehe, kann ich spüren, wie sie mich tief im Inneren berühren.
Neben der Anlagen liegt eine Fernbedienung, mit der ich mich gut zurechtfinden kann. Es gibt zwar eine Tracklist, doch da immer neue Stücke dazukommen, sie die ersten Seiten vergilbt und die letzten strahlend weiß. Leider kann ich auch nicht mehr alle Lieder hören. Sie hat einen unglaublich guten Sound, doch beizeiten gibt sie die Dinge nicht so wieder, wie sie aufgespielt wurden. Es ist, als wollte ich, dass sich das Stück ändert. Meistens merke ich mir die Änderung und das Original, doch je älter ein Stück ist, desto mehr verschmelzen das, was ich hören möchte und das, was ich wohl mal gehört habe.
Das Theater ist wohl der eindrucksvollste Ort. Dort kann ich sowohl Regisseur als auch Zuschauer sein. Hin und wieder kann ich das Stück verändern, auch wenn es mit seiner Uraufführung bereits in die Geschichte eingegangen ist. Ich bin mir hin und wieder sicher, dass eine andere Variante besser angekommen wäre, aber beim Publikum zählt nur der erste Auftritt, sie sehen nur die erste Aufführung. Manchmal macht es mich traurig, dass ich die Stücke nicht mehr ändern kann, doch meistens bin ich mir sicher, dass ich aus ihnen viel gelernt habe, was mir hilft, wirklich gute Stücke zu erarbeiten.
Im Kino ist es anders, hier lässt sich der Film nicht mehr bearbeiten. Ich setze mich hin, wähle einen Film und bekomme meine Vorstellung. Ich habe Verbesserungsvorschläge und Kritikpunkte, doch kann ich nichts mehr am Film ändern. Manchmal sehe ich mir bewusst traurige oder verstörende Filme an, meistens sind es aber lustige, schöne und glücklich machende Filme.
Den Sinn der Bücher habe ich noch nie ganz verstanden. Es sind so viele, und doch ist es im Endeffekt nur eines. Ein gewaltig großes und dickes, indem ich mich doch immer gut zurechtfinde. Einige Seiten tauchen zwar nicht wieder auf, aber so ist es auch mit einigen Filmen und Audiodateien, den Handlungstrang stört es eher selten.

Wenn es mir dort zu langweilig wird, kann ich auch einfach wieder zurück auf die Straße gehen und mich auf die Sandwüste zu bewegen. Allerdings kann ich die Straße irgendwann kaum noch sehen, muss ihren Verlauf erahnen, da sie ja komplett von Sand bedeckt ist. Kurven und Abzweigungen kann ich nur erahnen, ich bewege mich in ein großes Nichts, durch welches ich in dem Wissen gehen kann, dass ich vielleicht dabei bin, mich meilenweit vom richtigen Verlauf zu entfernen.
Hier gibt es auch eine Anlage, ein Theater und ein leeres Buch.
Die CDs, die ich in die Anlage lege, muss ich selbst bespielen, die Stücke, die ich mir ansehen und kreieren kann, sind rein fiktiv und werden vom Publikum so wahrscheinlich nie erblickt werden, und die Texte, die ich in das Buch schreibe, verblassen mit der Zeit, bis sie von meinen neueren Texten überschrieben werden. Es bleibt alles wage und unsicher, bis dann die Straße unter meinen Füßen auf einmal weniger vom Sand bedeckt ist und ich die Kurven und Biegungen sehen kann. Ich habe mich nie weit vom letzten bekannten Fleck der Straße entfernt.
Der Tag der Aufführung ist gekommen, eigentlich weiß ich nicht, was gespielt werden soll, darum muss meistens improvisiert werden. Natürlich hoffe ich, dass das Stück gut ankommt, doch ich habe es schon oft erlebt, dass ein Stück nach hinten losgeht. Auch bei anderen.
Oft frage ich mich, ob ich den Verlauf der Straße wohl irgendwann exakt vorhersagen kann. Es gibt Biegungen, die ich schon recht gut erahnen kann, doch dann tauchen Schlaglöcher auf, mit denen ich nicht gerechnet habe, welche mich ins Straucheln bringen.

Dann kommt der Moment, in welchem ich wieder auf der Straße stehe, und hinter und vor mir nur den Teer und den Sand sehen kann. Wenn alles andere kurz verschwindet, damit ich mich neu orientieren kann. In diesem Moment ist es ruhig, die Theateraufführungen sind vorbei, die Anlage ist still, das Museum ist geschlossen. Die Ruhe tut gut. Ich brauche den Leerlauf, um den weiteren Verlauf der Straße neu abschätzen zu können.

Lebenswege, Part II

Er hatte sich ein letztes Mal von ihnen verabschiedet. Seinen guten Freunden hatte er versprochen, sie zu besuchen und anzurufen. Die weniger Guten wünschten ihm viel Glück und Erfolg an seiner neuen Schule. Er würde sie vermissen.
Er musste die Schule im Halbjahr wechseln. Er war traurig, als er den Flur in Richtung Treppen entlang ging. Dies alles würde er nun hinter sich lassen müssen. Er hatte sich schon lange damit abgefunden, trotzdem war er melancholisch und dachte an all die schönen Momente, die er an dieser Schule erleben durfte. Rechts von ihm waren Klassenräume, links waren Fenster. Er blieb kurz stehen und blickte auf den Schulhof. Auch dabei wurden Erinnerungen wach. Am Ende des Flurs hörte er eine Tür aufgehen und sah drei lachende Mädchen den Raum verlassen und sich auf die Fensterbänke setzen. Er kannte sie alle drei. Zwei flüchtig und die eine hätte eine enge Freundin werden können Zusammen mit anderen waren sie eine coole Gruppe gewesen. Doch dann kam es zum Streit und obwohl sie hin und wieder miteinander redeten, hatte doch keiner von beiden den entscheidenden Schritt auf den anderen zu gemacht. Und nun saß sie dort und er wusste, dass sie sich für immer aus den Augen verlieren würden, wenn er sie jetzt nicht ansprach. Er überlegte, was er sagen sollte, doch er merkte, dass sie ihn gar nicht wahrnahm. Sie war in ein Gespräch vertieft, lachte, und sah nach draußen. Er atmete tief durch, er bebte innerlich, aber eigentlich hatte er geahnt, dass es so sein würde. Er ging an den drei Mädchen vorbei, ohne ein Wort zu sagen. Er erreichte die Treppen, traf noch einen guten Bekannten, verabschiedete sich, und verließ das Gebäude. Er wusste, dass sie ihn jetzt sehen konnte. Ob sie ihn wohl wahrnahm? Was würde sie wohl über ihn denken, wenn sie ihn wahrnahm? Er wollte sich fast noch einmal umdrehen, ihr ins Gesicht sehen, sie anlächeln. Doch er tat es nicht. In diesem Moment war seine Eitelkeit stärker, er straffte sein Inneres und verließ den Schulhof. Er hatte bereits einmal den ersten Schritt gemacht und ihr einen Gefallen getan, doch es hatte sich nichts geändert. Er verwarf seine Gedanken und dachte an die lange Autofahrt, die ihm nun bevorstand.

Als sie mit ihren zwei Freundinnen das stickige Klassenzimmer verließ, sah sie ihn im Gang stehen. Er hatte seine Tasche dabei, obwohl die Schule noch nicht vorbei war, doch wer weiß, vielleicht musste seine Klasse jetzt den Raum wechseln? Sie setze sich auf die Fensterbank und tat so, als würde sie ihrer Freundin zuhören. Doch in ihren Gedanken war sie bei dem Jungen und dem ungelösten Problem zwischen ihnen. Sie hatten sich so gut verstanden. Und hätten sie sich nicht gestritten, hätten sie sehr gute Freunde werden können. Doch es war anders gekommen und sie hatte sich lange keine Gedanken gemacht, doch hin und wieder fehlte ihr das. Er ging jetzt an ihr vorbei, doch sie konnte ihn nicht einfach ansprechen. Aber sie hoffte, dass er es tat. Doch er tat es nicht.
Drei Minuten später sah sie, wie er das Gebäude verließ und über den Schulhof ging. Ob er wohl zum Arzt musste? Sie könnte ihn anschreiben und fragen. Sie holte hier Handy aus der Tasche und musste feststellen, dass sie seine Nummer nicht mehr hatte.
Sie würde ihn nach den Kurzferien irgendwie zufassen bekommen. Sie würde sich etwas einfallen lassen und sich seine Nummer besorgen. Vielleicht ging es ihm ja wie ihr.

Das Spiel

Ich habe einen der besseren Plätze erwischt. Bei mir sind nicht mehr viele Raucher, die Luft ist atembar. Man arbeite gar daran, die letzten Rauschwaden zu entfernen, hat man mir erzählt, auch wenn dies wohl nichts mehr bringen wird, da die Luft bereits so stickig ist. Es heißt, wenn es so weitergehe, würden wir nicht mehr lange weiterspielen können. Aber welchen Sinn hat das Spiel überhaupt? Obwohl es wohl an insgesamt immer mehr Tischen gute Möglichkeiten gibt, sind viele Spieler dem Rausschmiss wohl immer noch sehr nahe und die Bedingungen werden nicht besser.

Alles fängt mit dem Tisch an, den man zugewiesen bekommt. Mit dem ersten Blatt und dem Höchsteinsatz, welchen man nicht ohne weiteres verspielen darf.
Ich war nicht dabei, als es entschieden wurde. Wie das geschieht, das weiß keiner. Es heißt, man müsse Glück haben. Andere sagen, der Leiter des Kasinos würde den Platz zuweisen, da er auf den ersten Blick erkenne, was jemand in einem Spiel erreichen könne. Viele sehen in diesen Spekulationen den Sinn des Spiels. Sie sagen, es gehe nicht darum, wo und mit welchen Voraussetzungen man spiele, sondern darum was man aus diesen Voraussetzungen mache. An den Wänden sieht man Bilder von Spielern, die was erreicht haben oder noch erreichen wollen. Spieler, die ganz unten anfingen und dann am begehrtesten Tisch spielten, Spieler, die sehr viel Glück hatten und zum Dealer wurden. Spieler, die so gut spielten, dass sie Einfluss auf den Dealer ausüben konnten, was ihnen wohl mehr nützte, als selbst der Dealer zu sein. Auch gibt es Bilder von den Kindern der legendären Spieler, man fürchtet sie, doch zuweilen scheint ihnen der Ruhm auch nicht gut zu tun.
Wir sind sehr viele Spieler, und wir werden immer mehr, auch wenn sich die Tische nicht vergrößern. Zwar bilden sich hin und wieder noch neue Tische, doch diese waren dann mal vereint in einem großen Tisch. Es heißt, dass es bald nicht mehr genug Karten für die Spieler gebe. Und dass sich dann nur noch die guten Spieler über Wasser halten könnten.
Ein weiteres Kriterium für den Aufstieg als Spieler ist die Bedienung. Bei uns läuft die Bedienung flüssig, im Vergleich zu anderen werden wir sogar sehr gut bedient. Andere müssen sehr lange auf den Kellner warten, heißt es. Einige werden ihn auch niemals sehen.
Ohne die Bedienung wäre vieles gar nicht möglich. Man sagt, je besser die Bedienung ist, desto größere Aufstiegschancen gibt es für den Spieler am Tisch. Sie ermöglicht den Tischwechsel. Das Eintauschen von Chips. Die Beschaffung neuer Karten. Speisen und Getränke.

Vor einiger Zeit soll es hier noch anders zugegangen sein. Da soll die Luft besser, der Einsatz sowie der Gewinn sollen kleiner und die Bedienung nicht so wählerisch gewesen sein. Es passierte schneller, dass man um alles oder nichts spielte.
Aber die Regeln haben sich geändert. Die Taktik hatte sich verbessert. Es war leichter geworden, den Tisch zu wechseln. Doch war es schwieriger geworden, in den Kreis des Dealers aufzusteigen, obwohl der Einstieg für die Spieler deutlich einfacher geworden war. An den Tischen um mich herum, so heißt es, passierte es nur noch sehr selten, dass ein Spieler direkt nach der ersten Runde den Tisch verlassen musste. Doch gibt es wohl immer noch Tische, an denen die meisten Spieler keine zehn Runden überstehen. Wenn überhaupt. Dies sind die Tische, zu denen sich auch keine Bedienung begibt. Das ist auch der Grund, warum viele den Leiter des Kasinos in Frage stellen. Sie glauben nicht mehr daran, dass er seine Ordnung hergestellt hat, denn er würde viel mehr profitieren, wenn er für ausgeglichene Verhältnisse sorgte. Auch macht es sie stutzig, dass er keine klar definierten Regeln festgeschrieben hat. Alles, was er den ersten Dealern gegeben haben soll, war ein Leitfaden. Auch wenn einige sagen, dass sich die Dealer diesen selbst ausgedacht haben, um an allen Tischen die Macht zu behalten und die Ordnung zu wahren. Die Zweifler sagen gar, dass es den Leiter des Kasinos gar nicht gibt und niemals gab. Dass die Spieler sich ihre Dealer auserkoren und die Dealer Ordnung in das Spiel brachten.
An den meisten Tisch läuft es nach den selben Regeln, sodass die Allmacht des Dealers und der Zufall der Karten nicht in Frage gestellt wird. Hier und da soll es Tische geben, an welchen die Dealer die neuen Regeln nicht übernommen haben und nach einem alten Schema spielen, was die meisten Dealer, die zusammenarbeiten, verärgert.
Der allgemeine Eindruck ist, dass alles seine Ordnung hat und der Spieler beim Spiel auch profitieren kann. Wir haben die Freiheit, uns mit anderen Spielern zusammenzutun, um uns bessere Chancen zu erarbeiten. Allerdings halten die meisten dieser Allianzen nicht lange, da meist neue geschmiedet werden, wenn die alte einen nicht mehr voranbringt. Es gilt als altmodisch immer denselben Partner zu haben. Man sagt, dass dasselbe auch für die Dealer gilt. Die Dealer treffen Absprachen, sodass sich gewisse Tischgruppen zusammenschließen, damit dynamischere Spiele entstehen, von welchen am Ende alle profitieren sollen. Allerdings erzählt man sich auch von kritischen Stimmen, die das aus den sinnvollsten und unsinnigsten Gründen heraus hinterfragen.

Ich habe mich viel mit diesen Fragen beschäftigt, denn eines Tages möchte ich auch ein Dealer sein. Ich möchte herausfinden, ob es wirklich so läuft, wie man mir sagt, oder ob man mir das nur sagt, damit es so läuft. An den Wänden sind noch Plätze für neue Bilder.
Genauso wie viele andere auch möchte ich einen davon haben.

Die Kunst der Wertschätzung

Es gab einmal einen Mann, der ein Liebhaber der schönsten Edelsteine war. Er suchte und sammelte die Schönsten und Auffälligsten, deren Preise mehr als unverschämt hoch waren.

Doch eines Tages rückte ein Stein in den Fokus des Liebhabers, den er bis dahin noch nie so wahrgenommen hatte, obwohl er praktisch schon immer um ihn herum gewesen war.
Zwar war er nicht der Teuerste, auch nicht der Größte und erst recht nicht der Begehrteste, doch er war von einem Tiefgang und einer in sich geschlossenen Perfektion, dass der sonst so redegewandte Mann nicht imstande war, den Stein zu beschreiben. Er zweifelte und verzagte, da er fürchtete, den Edelstein nicht so schätzen zu können, wie es ihm gebührte, doch er wagte den Schritt und setzte alles daran, den Stein sein Eigen nennen zu können.

Als der Liebhaber sein Ziel erreicht hatte, stellte er ihn gut sichtbar in seinem Haus auf, machte ihn zum Zentrum des gesamten Gebäudes. Und jedes Mal, wenn er den Stein sah, funkelten seine Augen heller als die Sterne, und es dauerte eine Weile, bis er sich vom Anblick lösen konnte.
Doch mit der Zeit verschwand das Funkeln und die Zeit, die er sich nahm, seinen Stein zu betrachten, wurde kürzer. 
Der Stein, den er einst so geliebt hatte, wurde immer uninteressanter für ihn, bis er dann schließlich begann, sich nach einem neuen Edelstein umzusehen. Er fand auch viele Schöne, doch sie alle waren nicht perfekt und würden noch den letzten Schliff benötigen, bevor sie wirklich perfekt für ihn waren.
Er betrachtete einige und er tat es lange und eingehend, doch musste er schnell feststellen, dass dieser letzte Schliff schwierig zu bewerkstelligen sein würde, da der Stein dabei den individuellen Charakter verlor, den er so schätzte.

Eines abends begab sich der Liebhaber zu einer Gala, auf welcher die schönsten und prachtvollsten Edelsteine der Welt gezeigt werden sollten, und der Liebhaber war sich sicher, dass dies seine letzte Chance sein würde, das begehrte Objekt zu finden. Doch als er den Saal betrat, verschlug es ihm die Sprache und er blieb wie angewurzelt stehen.
Dort, in der Mitte des Saales, war eine riesige Menschenmenge um einen wunderschönen, ja gar perfekten Edelstein versammelt... um seinen Edelstein! Der Liebhaber musste sich erst einmal setzen, denn er glaubte bereits, den Stein aufgrund seiner eigenen Dummheit und Erblindung verloren zu haben, als einer der Gastgeber auf ihn zu kam, und ihn freundschaftlich grüßte, obwohl er den Mann noch nie gesehen hatte. Der Gastgeber setzte sich zum Liebhaber und bedankte sich überschwänglich für die Möglichkeit, den Stein zu präsentieren. Er wurde auch nicht müde zu versichern, dass der Stein in guten Händen sei und am vereinbarten Termin zurück zum Liebhaber komme. Dem Liebhaber fiel ein Stein vom Herzen, als er erkannte, dass er den Edelstein doch nicht verloren hatte, und er schwor sich, niemals wieder die Schönheit dessen, was er bereits besaß, zu verkennen.

Später an diesem Abend hörte er von einem Mann in einer ähnlichen Lage, der seinen ehemals geliebten Edelstein gegen einen neuen tauschte, und diesen Tausch bitter bereute, als er erkannte, dass er damit verloren hatte, was er all die Zeit gesucht hatte...

Lebenswege, Part I

Ich gehe eine Straße entlang. Hier sehe ich ein bekanntes Gesicht, dort höre ich einen Namen. Überall stehen die Menschen, sehen nach links, blicken nach rechts. Manche mustern den Boden, andere schauen in den Himmel. Einige grüßen mich, andere ignorieren mich. Wenige laufen mir hinterher, um ausführlich mit mir zu sprechen. Ich treffe einen alten Freund, den ich lange nicht mehr sah. Ich grüße ihn, doch er kennt nicht mal mehr meinen Namen.
So geht es tagein, tagaus. Tag für Tag gehe ich diese Straße entlang, meistens sehe ich dieselben Menschen, manchmal kommen auch neue hinzu. Es sind eigentlich immer dieselben, mit denen ich rede, dieselben, die ich grüße, dieselben, die mich bereits vergessen haben.
Ich mache mir keine Illusion, als ich selbst anhalte, und das Geschehen betrachte: Morgen werde ich den einen oder anderen auch schon vergessen haben.