Mittwoch, 17. Februar 2016

Verpasste Chance

Langsam komme ich wieder zu mir, doch spüre ich, dass der Boden unter mir hart und mein Körper ganz steif ist, alles schmerzt. Auch kann ich die Sonne spüren, die auf meinen Körper scheint, es ist warm. Meine Finger betasten den Boden, auf dem ich liege, er ist nicht nur hart, sondern auch rau und steinig. Vorsichtig öffne ich die Augen und stelle erstaunt fest, dass ich auf der Straße liege. Doch was mache ich hier? Ich versuche aufzustehen, doch meine Muskeln versagen mir den Dienst und ich bleibe liegen, warte, dass die Wellen des Schmerzes abebben. Was mache ich hier? Die Frage geht mir nicht aus dem Kopf, doch eine Antwort finde ich nicht. Vielleicht hatte ich einen Unfall, dass ich hier liege? Es ist warm, bin ich einfach nur zusammengebrochen? Nein, ich fühle mich zumindest nicht ausgetrocknet. Ich sammele alle meine Kräfte, beiß die Zähne zusammen, schließe die Augen und drücke mich von der Straße ab, dass ich zumindest nicht mehr liege, sondern auf der Straße knie. Wieder stütze ich mich auf und drücke mich hoch, leite nun auch Kraft in meine Beine, die gehorchen und mich aufrichten. Ich klopfe den Dreck von meinen Beinen und meinen Armen ab, doch mir scheint nichts zu fehlen. Seltsam. Vielleicht tat alles nur so weh, weil ich auf dem Boden lag? Der Schmerz verschwindet ein wenig, bis ich ihn nur noch im Rücken und ihm Nacken spüre, doch nun er ist um einiges erträglicher, als er es gerade war. Ich sehe mich um und stelle fest, dass ich nicht weit von meiner alten Schule entfernt bin. Was wollte ich denn hier? Mit meiner rechten Hand fahre ich mir durchs Haar und gehe vorsichtig ein paar Schritte, bis ich mir sicher sein kann, dass ich nicht einfach aufgrund versiegender Kräfte zusammengeklappt bin. Nein, das scheint wirklich nicht der Grund gewesen zu sein. Ich ziehe meinen linken Ärmel ein Stück hoch, um auf die Uhr zu sehen, doch sie ist nicht dort. Merkwürdig. Ich bin mir sicher, dass ich sie angelegt hatte. Ich taste meine Taschen ab, auch dort ist nichts. Weder mein Handy noch mein Portmonee sind dort. Ich muss bestohlen worden sein. Frustriert seufze ich auf. Plötzlich spüre ich auch einen Schmerz am Hinterkopf, ob ich wohl niedergeschlagen wurde? Kurz überlege ich, was ich nun tun soll, aber es hat keinen Zweck, weit und breit ist niemand zu sehen. Der Dieb ist über alle Berge. Mit meinem Handy, meinem Personalausweis, 50 Euro in Bar, meiner EC-Karte, eben alles, was ich dabei hatte. Lautlos fluche ich vor mich hin, während ich bereits losgegangen bin. Ich muss nach Hause, die Polizei von dort anrufen. Vielleicht taucht ja wenigstens mein Perso wieder auf. Ich bleibe stehen und stelle irritiert fest, dass ich mitten auf meinem alten Schulhof stehe. War ich so in Gedanken verloren, dass ich nicht mitbekommen habe, dass ich durch das Tor gegangen bin? Hatte ich nicht eigentlich den Weg an der Schule vorbei eingeschlagen? Schließlich wäre es ja auch der Schnellere gewesen. Ich sehe mich um und muss feststellen, dass die Schule ganz anders als vor zwei Jahren aussieht. Verwirrt bleibe ich stehen und mustere meine Umgebung aufmerksam. Moment, das kann nicht sein, da ist ja noch der alte Gebäudekomplex! Ich muss spinnen. Meine Kopfwunde muss schlimmer sein, als mir bewusst ist, es ist unmöglich, dass es dort ist, und doch stehe ich im nächsten Moment davor und presse meine Hand an den Stein. Es ist der alte Teil des Gebäudes. Es ist bereits drei Jahre her, dass es abgerissen wurde und als ich die Schule dann verließ, hatten sie gerade den neuen Teil fertig gestellt. Eine bloße Renovierung war nach einem kleinen Brand nicht mehr in Frage gekommen, weil dieser Teil bereits dreißig Jahre auf dem Buckel gehabt hatte. Ich folge der Mauer und blicke um die Ecke, wo ein kleiner Fußballplatz hätte sein sollen, stattdessen treffe ich auf die moorigen Wiesen, die es eigentlich nicht mehr geben dürfte. Ich sehe mich um, tatsächlich ist alles so, wie es vor drei Jahren noch war. Und das gefällt mir nicht, gefällt mir ganz und gar nicht. Panik kommt in mir auf, ich muss von hier verschwinden, muss nach Hause, zu einem Arzt. Jemand muss mir helfen. Ich stürme los, biege um die Ecke und komme augenblicklich wieder zum Stehen. Jetzt ist es vorbei. Endgültig und eindeutig. Das ist nicht real. Das kann nicht sein. Langsam und doch schnell gehe ich wieder um die Ecke und verstecke mich hinter ihr. Mein Puls rast und ich atme schneller, als es gesund sein kann. Ich schließe die Augen und zwinge mich, wieder einigermaßen normal zu atmen. Dann luge ich wieder vorsichtig hervor, allerdings hat sich nichts an der Szenerie verändert. Dort sitzen Leonie und… ich. Nein, das bin nicht wirklich ich, das ist mein altes Ich, mein drei Jahre jüngeres Ich um genau zu sein. Ich muss träumen, nein, ich muss halluzinieren. Ein Traum wäre doch nicht so real, oder? Ich erlebe gerade einen Tag aus meiner Vergangenheit. Ich kann mich noch sehr gut an diesen Tag erinnern, es war das letzte Mal, dass ich so innig und intensiv mit Leonie Zeit verbringen konnte, bevor sich unsere Wege trennten. Danach kam nur noch die Frage, ob sie mich wohl für immer vergessen hat. Wie oft habe ich bereits an diesen Tag zurückgedacht und mich gefragt, was ich hätte ändern müssen, um sie nicht zu verlieren. Das Mädchen, in das ich damals bereits seit zwei Jahren mehr oder weniger verliebt war. Klar, ich hatte damals auch schon eine Freundin gehabt, doch losgelassen hat sie mich nie ganz. Als ich sie jetzt so sehe, ihr wunderschönes, sanftes Gesicht und ihre langen dunklen Haare, läuft mir ein Schauer den Rücken herunter. Worüber wir… sie… wohl gerade reden? Ich… mein altes Ich gestikuliert wild in der Luft und scheint ihr etwas zu erklären, sie fängt an zu lachen und boxt mich auf meinen Oberarm. Ein warmes wenn auch leises Lachen entweicht meiner Kehle und ich fühle, wie ich mich damals gefühlt habe. Ich war aufgeregt und hatte dasselbe Lachen in der Kehle. Vor allem war ich glücklich. Gebannt beobachte ich uns… die beiden. Sie muss gewusst haben, dass ich in sie verliebt bin, ich kann es selbst auf diese Entfernung sehen. Wie gerne würde ich jetzt mit mir selbst tauschen und sie wieder lachen hören. Die Absurdität des Gedankens reißt mich aus meiner Trance und mir wird wieder bewusst, dass es nicht normal ist, was ich hier gerade erlebe. Der Wind frischt auf, plötzlich ist der Himmel über mir dunkel und der Wind ist geradezu stürmisch, doch bei Leonie und meinem alten Ich ist immer noch alles sonnig und normal. Kurz verschwimmt alles, ich lehne sitzend an der Wand und mein Herz droht wieder zu zerspringen, Schweiß strömt aus jeder Pore. Ich wische ihn mir aus dem Gesicht, warum kann ich nicht mehr klar sehen? Es ist, als würde ich alles durch eine Milchglasscheibe sehen, in einem Moment sind da noch die grünen Wiesen und im nächsten sehe ich ein verschwommenes Gesicht mit einem weißen Ding vorm Mund, doch auch dieses Bild bleibt nicht und ich stehe wieder an der Straße vor der Schule. Mein Kopf dröhnt und schmerzt und auch meine Glieder sind wieder schwer wie blei. Ich massiere meine Schläfen, bis lautes Gemurmel mich zwingt, meine Augen zu öffnen. Gebannt starre ich auf eine Menschenmenge, die sich in einem Halbkreis um etwas - jemanden? - versammelt hat und hinabstarrt. Auf der anderen Seite der Menge ist ein Krankenwagen, auf dem Boden liegt Blut. Meine Schmerzen und schweren Glieder sind zweitrangig geworden, ich spüre, dass es mich mit einem Grauen zu der Menschenmenge zieht. Was werde ich dort finden? Langsam gehe ich darauf zu, will unbedingt die Menschen beiseite schieben, um zu sehen, was sie vor mir verstecken. Doch noch bevor ich die Menge erreicht habe, löst sich einer der Menschen aus dem Verbund und kommt auf mich zu, gestikuliert wild und sagt, ich solle verschwinden. Panik flutet mich wieder, mein Mund steht offen, das bin ich, ich verscheuche mich selbst! Die Menge ist zu dicht, ich kann einfach nicht sehen, woher das ganze Blut kommt. Es ist einfach zu viel, meine Kopfschmerzen sind stärker als zuvor und ich spüre, dass ich drohe das Bewusstsein zu verlieren. Alles verschwimmt, wird kurz schwarz, und dann sehe ich wieder die Wiesen vor mir. Ein Sturm ist aufgezogen und mit jeder Sekunde wird es um mich herum dunkler und dunkler. Unter Aufbietung meines ganzen Willens und all meiner Kraft stehe ich wieder auf und taumele hinter der Ecke hervor. Ich möchte, nein, muss sie noch einmal sehen. Trotz meiner Schmerzen ist das Bedürfnis übermächtig, es hält mich auf den Beinen. In der Gegenwart ist es mir nicht mehr vergönnt, dann muss ich diese Gelegenheit doch nutzen, oder? Doch ich kann kaum noch etwas erkennen. Ich kann sie lachen hören, ich… mein altes Ich redet. Doch ich komme ihnen nicht näher, ich habe keine Kraft mehr. Ich breche zusammen, sodass ich wieder auf dem harten Untergrund liege. Am Rand meiner Wahrnehmung bemerke ich, dass er nicht steinig ist, obwohl er es sein müsste. Doch der Gedanke verschwindet sehr schnell wieder und es bleibt nichts als die Schwärze um mich herum haften. Obwohl ich nichts mehr sehen kann, habe ich den Eindruck, dass alles um mich herum sich dreht und viel zu viel auf mich hereinbricht. Noch immer ist da dieses starke Bedürfnis, Leonie ein letztes Mal zu sehen. Wie viel würde ich dafür geben, noch einmal mit ihr reden oder bloß ihr Gesicht und ihr Lächeln sehen zu können. Zu gerne würde ich jetzt zurückreisen, um alles zu verändern und das Mädchen in mein Leben zurückzuholen, das ich nie hätte gehen lassen dürfen.
Nach einer Weile wird aber auch dieser Wunsch von der Schwärze gebrochen, bis nur noch die Leere bleibt.

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