Langsam komme ich wieder zu mir, doch
spüre ich, dass der Boden unter mir hart und mein Körper ganz steif
ist, alles schmerzt. Auch kann ich die Sonne spüren, die auf meinen
Körper scheint, es ist warm. Meine Finger betasten den Boden, auf
dem ich liege, er ist nicht nur hart, sondern auch rau und steinig.
Vorsichtig öffne ich die Augen und stelle erstaunt fest, dass ich
auf der Straße liege. Doch was mache ich hier? Ich versuche
aufzustehen, doch meine Muskeln versagen mir den Dienst und ich
bleibe liegen, warte, dass die Wellen des Schmerzes abebben. Was
mache ich hier? Die Frage geht mir nicht aus dem Kopf, doch eine
Antwort finde ich nicht. Vielleicht hatte ich einen Unfall, dass ich
hier liege? Es ist warm, bin ich einfach nur zusammengebrochen? Nein,
ich fühle mich zumindest nicht ausgetrocknet. Ich sammele alle meine
Kräfte, beiß die Zähne zusammen, schließe die Augen und drücke
mich von der Straße ab, dass ich zumindest nicht mehr liege, sondern
auf der Straße knie. Wieder stütze ich mich auf und drücke mich
hoch, leite nun auch Kraft in meine Beine, die gehorchen und mich
aufrichten. Ich klopfe den Dreck von meinen Beinen und meinen Armen
ab, doch mir scheint nichts zu fehlen. Seltsam. Vielleicht tat alles
nur so weh, weil ich auf dem Boden lag? Der Schmerz verschwindet ein
wenig, bis ich ihn nur noch im Rücken und ihm Nacken spüre, doch
nun er ist um einiges erträglicher, als er es gerade war. Ich sehe
mich um und stelle fest, dass ich nicht weit von meiner alten Schule
entfernt bin. Was wollte ich denn hier? Mit meiner rechten Hand fahre
ich mir durchs Haar und gehe vorsichtig ein paar Schritte, bis ich
mir sicher sein kann, dass ich nicht einfach aufgrund versiegender
Kräfte zusammengeklappt bin. Nein, das scheint wirklich nicht der
Grund gewesen zu sein. Ich ziehe meinen linken Ärmel ein Stück
hoch, um auf die Uhr zu sehen, doch sie ist nicht dort. Merkwürdig.
Ich bin mir sicher, dass ich sie angelegt hatte. Ich taste meine
Taschen ab, auch dort ist nichts. Weder mein Handy noch mein
Portmonee sind dort. Ich muss bestohlen worden sein. Frustriert
seufze ich auf. Plötzlich spüre ich auch einen Schmerz am
Hinterkopf, ob ich wohl niedergeschlagen wurde? Kurz überlege ich,
was ich nun tun soll, aber es hat keinen Zweck, weit und breit ist
niemand zu sehen. Der Dieb ist über alle Berge. Mit meinem Handy,
meinem Personalausweis, 50 Euro in Bar, meiner EC-Karte, eben alles,
was ich dabei hatte. Lautlos fluche ich vor mich hin, während ich
bereits losgegangen bin. Ich muss nach Hause, die Polizei von dort
anrufen. Vielleicht taucht ja wenigstens mein Perso wieder auf. Ich
bleibe stehen und stelle irritiert fest, dass ich mitten auf meinem
alten Schulhof stehe. War ich so in Gedanken verloren, dass ich nicht
mitbekommen habe, dass ich durch das Tor gegangen bin? Hatte ich
nicht eigentlich den Weg an der Schule vorbei eingeschlagen?
Schließlich wäre es ja auch der Schnellere gewesen. Ich sehe mich
um und muss feststellen, dass die Schule ganz anders als vor zwei
Jahren aussieht. Verwirrt bleibe ich stehen und mustere meine
Umgebung aufmerksam. Moment, das kann nicht sein, da ist ja noch der
alte Gebäudekomplex! Ich muss spinnen. Meine Kopfwunde muss
schlimmer sein, als mir bewusst ist, es ist unmöglich, dass es dort
ist, und doch stehe ich im nächsten Moment davor und presse meine
Hand an den Stein. Es ist der alte Teil des Gebäudes. Es ist bereits
drei Jahre her, dass es abgerissen wurde und als ich die Schule dann
verließ, hatten sie gerade den neuen Teil fertig gestellt. Eine
bloße Renovierung war nach einem kleinen Brand nicht mehr in Frage
gekommen, weil dieser Teil bereits dreißig Jahre auf dem Buckel
gehabt hatte. Ich folge der Mauer und blicke um die Ecke, wo ein
kleiner Fußballplatz hätte sein sollen, stattdessen treffe ich auf
die moorigen Wiesen, die es eigentlich nicht mehr geben dürfte. Ich
sehe mich um, tatsächlich ist alles so, wie es vor drei Jahren noch
war. Und das gefällt mir nicht, gefällt mir ganz und gar nicht.
Panik kommt in mir auf, ich muss von hier verschwinden, muss nach
Hause, zu einem Arzt. Jemand muss mir helfen. Ich stürme los, biege
um die Ecke und komme augenblicklich wieder zum Stehen. Jetzt ist es
vorbei. Endgültig und eindeutig. Das ist nicht real. Das kann nicht
sein. Langsam und doch schnell gehe ich wieder um die Ecke und
verstecke mich hinter ihr. Mein Puls rast und ich atme schneller, als
es gesund sein kann. Ich schließe die Augen und zwinge mich, wieder
einigermaßen normal zu atmen. Dann luge ich wieder vorsichtig
hervor, allerdings hat sich nichts an der Szenerie verändert. Dort
sitzen Leonie und… ich. Nein, das bin nicht wirklich ich, das ist
mein altes Ich, mein drei Jahre jüngeres Ich um genau zu sein. Ich
muss träumen, nein, ich muss halluzinieren. Ein Traum wäre doch
nicht so real, oder? Ich erlebe gerade einen Tag aus meiner
Vergangenheit. Ich kann mich noch sehr gut an diesen Tag erinnern, es
war das letzte Mal, dass ich so innig und intensiv mit Leonie Zeit
verbringen konnte, bevor sich unsere Wege trennten. Danach kam nur
noch die Frage, ob sie mich wohl für immer vergessen hat. Wie oft
habe ich bereits an diesen Tag zurückgedacht und mich gefragt, was
ich hätte ändern müssen, um sie nicht zu verlieren. Das Mädchen,
in das ich damals bereits seit zwei Jahren mehr oder weniger verliebt
war. Klar, ich hatte damals auch schon eine Freundin gehabt, doch
losgelassen hat sie mich nie ganz. Als ich sie jetzt so sehe, ihr
wunderschönes, sanftes Gesicht und ihre langen dunklen Haare, läuft
mir ein Schauer den Rücken herunter. Worüber wir… sie… wohl
gerade reden? Ich… mein altes Ich gestikuliert wild in der Luft und
scheint ihr etwas zu erklären, sie fängt an zu lachen und boxt mich
auf meinen Oberarm. Ein warmes wenn auch leises Lachen entweicht
meiner Kehle und ich fühle, wie ich mich damals gefühlt habe. Ich
war aufgeregt und hatte dasselbe Lachen in der Kehle. Vor allem war
ich glücklich. Gebannt beobachte ich uns… die beiden. Sie muss
gewusst haben, dass ich in sie verliebt bin, ich kann es selbst auf
diese Entfernung sehen. Wie gerne würde ich jetzt mit mir selbst
tauschen und sie wieder lachen hören. Die Absurdität des Gedankens
reißt mich aus meiner Trance und mir wird wieder bewusst, dass es
nicht normal ist, was ich hier gerade erlebe. Der Wind frischt auf,
plötzlich ist der Himmel über mir dunkel und der Wind ist geradezu
stürmisch, doch bei Leonie und meinem alten Ich ist immer noch alles
sonnig und normal. Kurz verschwimmt alles, ich lehne sitzend an der
Wand und mein Herz droht wieder zu zerspringen, Schweiß strömt aus
jeder Pore. Ich wische ihn mir aus dem Gesicht, warum kann ich nicht
mehr klar sehen? Es ist, als würde ich alles durch eine
Milchglasscheibe sehen, in einem Moment sind da noch die grünen
Wiesen und im nächsten sehe ich ein verschwommenes Gesicht mit einem
weißen Ding vorm Mund, doch auch dieses Bild bleibt nicht und ich
stehe wieder an der Straße vor der Schule. Mein Kopf dröhnt und
schmerzt und auch meine Glieder sind wieder schwer wie blei. Ich
massiere meine Schläfen, bis lautes Gemurmel mich zwingt, meine
Augen zu öffnen. Gebannt starre ich auf eine Menschenmenge, die sich
in einem Halbkreis um etwas - jemanden? - versammelt hat und
hinabstarrt. Auf der anderen Seite der Menge ist ein Krankenwagen,
auf dem Boden liegt Blut. Meine Schmerzen und schweren Glieder sind
zweitrangig geworden, ich spüre, dass es mich mit einem Grauen zu
der Menschenmenge zieht. Was werde ich dort finden? Langsam gehe ich
darauf zu, will unbedingt die Menschen beiseite schieben, um zu
sehen, was sie vor mir verstecken. Doch noch bevor ich die Menge
erreicht habe, löst sich einer der Menschen aus dem Verbund und
kommt auf mich zu, gestikuliert wild und sagt, ich solle
verschwinden. Panik flutet mich wieder, mein Mund steht offen, das
bin ich, ich verscheuche mich selbst! Die Menge ist zu dicht, ich
kann einfach nicht sehen, woher das ganze Blut kommt. Es ist einfach
zu viel, meine Kopfschmerzen sind stärker als zuvor und ich spüre,
dass ich drohe das Bewusstsein zu verlieren. Alles verschwimmt, wird
kurz schwarz, und dann sehe ich wieder die Wiesen vor mir. Ein Sturm
ist aufgezogen und mit jeder Sekunde wird es um mich herum dunkler
und dunkler. Unter Aufbietung meines ganzen Willens und all meiner
Kraft stehe ich wieder auf und taumele hinter der Ecke hervor. Ich
möchte, nein, muss sie noch einmal sehen. Trotz meiner Schmerzen ist
das Bedürfnis übermächtig, es hält mich auf den Beinen. In der
Gegenwart ist es mir nicht mehr vergönnt, dann muss ich diese
Gelegenheit doch nutzen, oder? Doch ich kann kaum noch etwas
erkennen. Ich kann sie lachen hören, ich… mein altes Ich redet.
Doch ich komme ihnen nicht näher, ich habe keine Kraft mehr. Ich
breche zusammen, sodass ich wieder auf dem harten Untergrund liege.
Am Rand meiner Wahrnehmung bemerke ich, dass er nicht steinig ist,
obwohl er es sein müsste. Doch der Gedanke verschwindet sehr schnell
wieder und es bleibt nichts als die Schwärze um mich herum haften.
Obwohl ich nichts mehr sehen kann, habe ich den Eindruck, dass alles
um mich herum sich dreht und viel zu viel auf mich hereinbricht. Noch
immer ist da dieses starke Bedürfnis, Leonie ein letztes Mal zu
sehen. Wie viel würde ich dafür geben, noch einmal mit ihr reden
oder bloß ihr Gesicht und ihr Lächeln sehen zu können. Zu gerne
würde ich jetzt zurückreisen, um alles zu verändern und das
Mädchen in mein Leben zurückzuholen, das ich nie hätte gehen
lassen dürfen.
Nach einer Weile wird aber auch dieser
Wunsch von der Schwärze gebrochen, bis nur noch die Leere bleibt.
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