Montag, 29. Januar 2018

Nimmermannsland

Als er die Augen aufschlug, war er zunächst verwirrt.
War er aus einem Traum oder war er vielmehr in einem Albtraum erwacht?
Panik erfasste ihn, er wusste es einfach nicht, konnte es nicht greifen.
Er setzte sich auf und sah sich um, hoffte auf einen Hinweis, hoffte auf ein Zeichen,
Doch konnte er nichts außer einem Baumstamm neben sich erkennen,
Rundherum war er umgeben von einem dichten Nebel.
Der Boden, auf dem er nun saß, war kalt, seine Umgebung nebelig und düster.
Wie war er hier gelandet?
Erinnerungen, Eindrücke und Emotionen brachen wie eine Welle über ihn herein, Kummer erfasste und erfüllte ihn,  verfolgte ihn bis in seine Träume.
Doch er blieb still.
Er war aufgestanden und einfach losgerannt.
Er hatte kein Ziel, kannte auch keins, er war einfach gerannt.
Stunde um Stunde, Tag um Tag war er durch den Nebel gerannt,
Er wusste nicht, ob er etwas suchte oder vielmehr vor etwas davonlief,
Doch machte es in dem Nebel überhaupt einen Unterschied?
Er rannte, er rannte, er rannte,
Es änderte sich nichts, kam er überhaupt voran?
Egal, er musste weg von hier, er musste all das einfach hinter sich lassen,
Denn je weiter er lief, desto mehr konnte er sich einreden, dass er all das auch einfach hinter sich lassen konnte,
Wenn es ihm nur gelang weit genug zu rennen, würde sich der Nebel schon lichten,
Dann wüsste er wieder, wo er war.
Und obwohl er, anfangs fest davon überzeugt das richtige zu tun, rannte,
Erfassten ihn weitere Welle, die ihn bis in seine Träume verfolgte.
Doch er blieb still.

Plötzlich tauchte ein Licht vor ihm auf, dass den Nebel zu durchschneiden schien.
Orientierungslos, erschöpft und verzweifelt folgte er dem Licht.
Je näher er dem Licht kam, desto dichter und dicker wurde der Nebel um ihn herum.
Eine Weile folgte er einfach dem Licht, hatte er denn auch eine andere Wahl?
Er rannte nicht mehr, er folgte langsam und mit jedem Schritt widerwilliger dem Licht,
Denn mit jedem weiteren Schritt fragte er sich, ob er das Licht überhaupt erreichen konnte.
Als ihn die Verzweiflung und die Hoffnungslosigkeit jedoch zu übermannen drohten,
Ging er keinen Schritt mehr, er blieb einfach stehen.
Instinktiv wusste er, dass er sich auf einem Irrweg befand, hatte es die ganze Zeit gewusst,
Doch hatte er es tun müssen, wohin hätte er sonst gehen sollen?
Wieder erfasste ihn die Welle, sie verwüstete und verwirbelte alles und jede Sicherheit,
Sie war sogar in seinen Träumen übermächtig.
Doch er blieb still.

Er ließ sich auf einen alten Baumstamm sinken, der in dem dicken Nebel neben ihm aufgetaucht war.
Es ergab keinen Sinn zu rennen oder gar einen weiteren Schritt zu setzen, wenn er kein Ziel kannte.
Er atmete tief durch, zumindest erleuchtete das Licht seine Umgebung.
Je länger er sitzen blieb, desto klarer wurde ihm,
Dass er zugleich etwas suchte und vor etwas davonlief.
Er suchte die Lösung für das Problem, das ihn verfolgte,
Das ihn jedes Mal einholte, mochte er auch noch so schnell und noch so weit rennen.
Die Welle kam, er hatte sie bereits kommen sehen, und er gab sich ihr voll und ganz hin,
Er spürte sie nicht nur, während er wach war, sie verfolgte ihn auch bis in seine Träume.
Doch er blieb still.

Wie hatte er nur so naiv sein können zu denken, er könne dem Nebel so leicht entrinnen?
Solange er kopflos davonrannte, statt sich zu orientieren, würde er nirgendwo ankommen.
Während er den Boden gedankenverloren anstarrte, entdeckte er etwas direkt vor ihm,
Dort waren Fußspuren und hatte dort jemand gelegen?
Hoffnung keimte in ihm auf, war hier vielleicht jemand, der ihn aus dem Nebel führen konnte?
Er sah sich in alle Richtungen um und rief so laut er konnte, aber er bekam keine Antwort.
Resigniert setzte er sich wieder auf seinen Stamm, als ihn die Erkenntnis traf:
Er hatte sich im Kreis gedreht, es musste so sein.
Er war gelandet, wo er zunächst erwacht war.
Er war keinen Schritt vorangekommen, er war nur kopflos davongerannt,
Er war einem Irrlicht gefolgt und hatte doch nichts gefunden.
Er war allein im undurchsichtigen Nebel.
Also blieb er still.

Er schüttelte mutlos den Kopf, was sollte er jetzt noch tun?
Nach all dem war er ein Trümmerfeld, nichts war mehr, wie es mal war.
Was war ihm noch geblieben?
Im Angesicht seines Scheiterns an sich selbst, regte sich etwas in ihm.
Trotz flammte in ihm auf und bereitete den Weg für eine neue Idee.
Die Idee wuchs und nahm eine Gestalt an, sie wurde zu einer Erkenntnis.
Er erkannte, dass ihn niemand aus dem Nebel retten würde, das konnte er nur selbst,
Jedoch konnte er nicht aus dem Nebel finden, wenn er kopflos blieb.
Ihm war klar, dass er nicht zurück finden würde, nicht zurück finden konnte,
Zurück zu der Zeit als er noch wusste, wohin er ging,
Zurück zu der Zeit als er noch wusste, was real war und was nicht,
Denn es gab nur eine Wahrheit, der er sich stellen konnte.
Als er im Nebel erwacht war, hatte er sich selbst verloren,
Nein, er war im Nebel erwacht, weil er sich selbst verloren hatte.

Die Welle kam, sie war der Ausgangspunkt,
Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob er sie nicht falsch verstand,
Doch er hatte nichts zu sagen, nichts vorzuzeigen,
Was sollte er daran ändern, wie sollte er sie verstehen?
Er wusste nicht, wer er war.
Also blieb er still.

Die Erkenntnis ließ ihn einen Entschluss fassen,
Er würde nicht mehr vor dem Nebel davonrennen, er würde bleiben, wo er war.
Er wusste nun, was er suchen musste und das konnte er nur hier finden,
So oder so würde er seinen Weg nur finden, wenn er jemand war,
Wenn er zum ersten Mal wirklich der Jemand war, der so tief in ihm schlief.
Stunde um Stunde, Tag um Tag verging,
Und tatsächlich begann sich der Nebel zu lichten, während er zu sich selbst fand.
Doch wurde auch der Abstand zwischen den Wellen kürzer,
Und auch seine Träume wurden immer intensiver.
Aber er blieb still.

Als er die Augen aufschlug, war er zunächst verwirrt.
War er aus einem Traum oder war er vielmehr in einem Albtraum erwacht?
Aufregung erfasste ihn, er wusste es einfach nicht sicher,
War er endlich bereit voranzukommen?
Der Nebel hatte sich verzogen,
Der Stamm, bei dem er so lange verharrt hatte, befand sich an einer Kreuzung.
Hinter ihm befand sich eine eingestürzte Brücke,
Er konnte nur noch blass erkennen, was auf der anderen Seite lag.
Er erinnerte sich, dass er von dort gekommen war, bevor er im Nebel erwacht war,
Er hatte in der Zwischenzeit bereits verstanden, wie und warum er auf diese Seite gekommen war.
Die Brücke war zerstört, es gab keine Möglichkeit für ihn zurückzugehen.

Er konnte nur einen der anderen Wege einschlagen.
Er stellte sich in die Mitte der Kreuzung und sah sich jeden der drei Wege genau an.
Er wusste, dass jeder der drei Wege ihn vor weitere schwere Herausforderungen stellen würde,
Doch wusste er nicht sicher, wohin ihn die drei Wege führen würden.
Zwar konnte er jeweils am Horizont erahnen, wohin sie ihn führen würden,
Er war sich jedoch nicht sicher, ob er, nur weil er dem Weg folgte, auch dort ankommen würde.
Die Gefahr, dass er sich ein weiteres Mal im Nebel verirrte, war groß,
Auch konnte er nicht erahnen, auf welche Hindernisse und Schlaglöcher er treffen würde.
Er wusste, er konnte nicht bleiben, wo er war.
Er hatte sich bereits zu lange auf der Stelle und im Kreis bewegt,
Es war an der Zeit, dass er vorankam, denn auch hier konnte ihn der Nebel wieder einholen,
Doch welchen Weg sollte er wählen?

Wieder erfasste ihn die Welle, die ihn regelmäßig bis in seine Träume verfolgt hatte
Und instinktiv wusste er, welchen Weg er gehen wollte.
Erst hatte er sie verdrängt und war vor ihr davongelaufen,
Doch konnte es kein Zufall sein, dass der Nebel gegangen und die Welle geblieben war.
Er stand vor der letzten großen Frage, dem letzten Problem.
All die Zeit hatte er es verdrängt, hatte es hinten angestellt, aber auch immer öfter hinterfragt.
Er verstand, dass er zwar nun wusste, wo er war, dass er auch wusste, wer er war,
Doch löste es nicht das Problem, vor dem er all die Zeit gestanden hatte.
Er hatte versucht wegzulaufen, weil er noch nicht bereit für die Wahrheit gewesen war,
Und war bis zum Schluss einem Irrlicht hinterhergerannt.

Der Nebel hatte sich gelichtet und es gab kein Irrlicht mehr, dem er folgen konnte.
Der Weg zurück war versperrt, er hätte auch nicht zurückgekonnt, zulange war er bereits hier.
Er hatte drei Wege zur Auswahl und konnte erahnen, wohin sie ihn führen würden.
Sein Gefühl sagte ihm, schrie ihn geradezu an, was er zu tun hatte.
Er wusste, was er wollte, doch hatte er auch den Mut, sich der Wahrheit zu stellen?
All die Zeit, Welle um Welle, hatte er sich selbst nicht verstanden,
Er hatte hartnäckig auf eine Sichtweise beharrt
Und hatte nun eingesehen, dass er falsch gelegen hatte.

Er wusste, welchen Weg er gehen musste, wenn er nicht mehr gegen die Welle ankämpfen wollte
Und er sah, welchen Weg er gehen konnte, wenn er weiter davonlaufen wollte,
Doch wollte er nicht weiter davonlaufen.
Also schlug er eine neue Richtung ein,
Er hatte erkannt, was die Wellen zu bedeuten hatten.
Er wusste, dass er bei der Zerstörung der Brücke selbst mitgeholfen,
Sogar wesentlich daran beteiligt gewesen war.
Er konnte die Zeit zwar nicht zurückdrehen,
Aber was wäre, wenn er eine neue Brücke bauen könnte?


Sein Entschluss stand fest, Aufregung erfüllte ihn statt Kummer.
Er nahm all seinen Mut zusammen.
Und er beendete sein Schweigen.

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