Verdammt, es ist soweit. Jetzt sitze
ich hier und schreibe meine erste Abiklausur. Ein mulmiges Gefühl
breitet sich in meiner Magengrube aus, frisst sich aufwärts durch
meinen Körper, bis es meine Brust zuschnürt und ich einen Anflug
von Panik spüre. Jetzt konzentriere dich mal, dafür hast du in den
letzten Wochen doch gelernt, oder nicht? Ich beginne, mich zu
fokussieren und als ich mich gerade bereit fühle, mir sicher bin, es
packen zu können, klingelt ein Handy. Mein Handy. Scheiße. Was
macht dieses Ding hier? Panisch durchsuche ich erst meine Hosen- und
dann meine Jackentaschen, kann es aber nirgendwo entdecken
Ich öffne die Augen, um mich herum ist
alles schwarz. Kurz bin ich verwirrt, warum bin ich nicht mehr in
meinem Klassenraum? Noch immer höre ich mein Handy klingeln, bis mir
langsam dämmert, dass ich gerade geträumt habe und nun wieder wach
bin. Ich gucke auf den Wecker. Kurz nach zwei. Ich hoffe, du hast
einen guten Grund mich zu wecken, grummele ich in mich hinein und
suche mit der linken Hand den Boden neben meinem Bett ab. Als ich es
endlich in der Hand habe, spüre ich auch die schwache Vibration und
zwinge mich, das grelle Display anzusehen. Eingehender Anruf von Max.
Muss wohl wichtig sein, wenn du es schon so lange klingeln lässt.
Hoffe ich zumindest für dich. Ich nehme den Anruf entgegen und melde
mich mit den Worten: „Ich hoffe, es ist mindestens eine acht, oder
du bist so was von tot.“ Am anderen Ende bleibt es still und ich
drehe mich zurück auf den Rücken, reibe mir mit der rechten Hand
den Schlaf aus den Augen. „Ach, komm schon, Max. Du weißt, dass
ich das nicht so meine, aber bitte sag mir, dass du mich nicht
einfach wecken wolltest.“ „Ja, sorry, hatte gerade die Flasche
angesetzt“, antwortet mir die bekannte Stimme meines besten
Freundes. „Sag mal“, setzt er wieder an, „du kannst nicht
zufällig vorbei kommen? Ich könnte dich gerade echt gut
gebrauchen.“ Für mich war schon längst klar, dass ich zu ihm
fahren würde. Die Geräte sind mittlerweile so gut, dass ich den
Alkohol nicht nur hören sondern fast schon riechen kann. „Klar,
Kumpel. Aber ich meine es ernst, mich um zwei Uhr zu wecken, um einen
mit mir zu heben, wäre echt dreist.“ „Nein, nein, so ist das
nicht“, versichert er mir. „Okay, gib mir eine halbe Stunde, ich
mache mich ein wenig frisch, zieh mich an und nehme das Auto meiner
Mutter, die hat morgen frei.“ „Okay. Geht das denn?“ Trotz
meiner Schlaftrunkenheit muss ich lachen. „Nun, für dich halte ich
auch mal meinen Kopf hin"“ versichere ich und lege auf. Ja,
ich denke, das wird meine Mutter schon verstehen. Zumindest solange
ich keinen Unfall habe.
Eine halbe Stunde später steige ich
aus dem Auto und entdecke direkt Max. Er muss auf mich gewartet
haben, da er mit einer Flasche Bier in der Linken und dem Schlüssel
in der Rechten auf der Treppe zur Haustür sitzt. Er setzt die
Flasche an, runzelt die Stirn und prüft sie eingehend, doch auch aus
einem Meter Entfernung, im Licht der kleinen Lampe über ihm, sehe
ich, dass seine Flasche leer ist. Bedächtig stellt er sie ab, erhebt
sich schwankend und drückt mich fest an sich. Tatsächlich riecht er
genauso stark nach Alkohol, wie ich es während des Telefonats
vermutet hatte, und ich nehme ihm direkt den Schlüssel ab, damit er
ihn nicht fallen lassen und verlieren kann. Er kann von Glück reden,
dass es heute Nacht recht mild ist, denke ich mir, sonst hätte er
demnächst wohl eine ordentliche Erkältung. Schnell ziehe ich ihn
ins Haus. „Sind deine Eltern gar nicht zuhause?“, frage ich ihn.
„Nein“, lallt er, „sind spontan übers Wochenende weg.“ Ich
nicke. Okay. Erstmal ins Wohnzimmer mit ihm. Dort offenbart sich mir
ein furchtbares Bild. Überall verstreut liegen leere Flaschen,
hauptsächlich Bier aber auch eine Flasche Wodka ist dabei. Ich hebe
sie auf und frage ihn: „Hast du die etwa alleine getrunken? Meinen
Lieblingswodka?“ Er grinst mich dümmlich an. „Neee!“ Während
er da so am Türrahmen lehnt, ziemlich besoffen ist und anscheinend
nicht mehr so recht weiß, wie man vernünftig redet, kann ich nicht
mehr und muss losprusten. Doch als ich mich dann endlich gefangen
habe, guckt er mich böse an. „Nun, wer hat dir denn geholfen?“,
frage ich ihn immer noch glucksend. Sein Blick verdüstert sind und
im Einklang sagen wir: „Natalie“. War ja klar, warum frage ich
eigentlich. Ich seufze schwer und sammele die Flaschen zusammen. „Wo
steht die Kiste“, frage ich ihn ohne aufzublicken. „Küche“. So
betrunken und einsilbig habe ich ihn noch nie erlebt, er hat sich
echt abgeschossen. Ich halte inne. „Ist Natalie auch hier?“
„Nein, das ist ja das Problem!“, schreit er lallend und entsetzt
aus. Ah, okay, wir kommen der Sache näher. Ich schnappe den Korb für
das Feuerholz aus der Ecke, fülle ihn mit den leeren Flaschen und
zwänge mich an ihm vorbei in den Flur. Gehe durch die Tür schräg
links in die Küche und entdecke direkt die halbleere Kiste. Max ist
mir gefolgt und lässt sich auf einen Stuhl plumpsen. „Hey Max,
glaubst du, du schaffst es, das alles bei dir zu behalten?“ Erst
schüttelt er den Kopf, dann zuckt er mit den Achseln. „Keine
Ahnung. Sorry man.“ „Schon okay.“ Schweigen. „Wie wär's,
wenn ich dir einen Tee mache?“ „Ja, bitte“, bekomme ich als
gedämpfte Antwort, er hat seinen Kopf unter seinen Armen vergraben.
Glücklicherweise kenne ich mich in der Küche aus und muss Max nicht
fragen, wo ich Kanne, Wasserkocher, Teebeutel, Löffel und Kandis,
eben alles für einen Tee, finde. Er wäre mir auch keine große
Hilfe gewesen. Ich entscheide mich für den leckeren Pfefferminztee
aus dem eigenen Anbau von Max und setze die Kanne Tee auf. Schnell
duftet es in der ganzen Küche und zehn Minuten später hat er seinen
dampfenden Becher Tee ohne und ich meinen mit Kandis. Ich setze mich
ihm gegenüber und schaue auf die Uhr an der Wand. Kurz vor drei. Was
für eine Nacht. Es dauert eine kleine Weile, doch der Tee scheint
ihn zu beleben, ein wenig sicherer in Satzkonstruktion und Wortwahl
erzählt er: „Sie haben erst heute Abend beschlossen zu fahren,
weißt du? Und Nat und ich schreiben ja wieder seit Anfang der Woche,
habe ich dir ja erzählt. Und dann kam sie auch vorbei, doch sie
wollte nur mit mir schlafen, das hat sie klipp und klar gesagt, weißt
du?“ Wie ich seine nachgestellten Fragen im betrunkenen Zustand
doch hasse. „Nein, weiß ich nicht“, antworte ich, auch wenn ich
weiß, dass es keine Wirkung zeigen wird. Er gibt ein erzwungenes
betrunkenes Lachen von sich und fährt fort: „Da wollte ich nicht
mitmachen, ich habe ja auch Gefühle, richtig? Was glaubt sie
eigentlich, wer sie ist, dass sie mich für die eine Nacht haben
kann?“ „Sie ist Natalie und weiß, dass du nun schon seit drei
Monaten auf sie scharf bist“, entgegne ich, bereue es aber sofort,
weil er wohl schlecht merken wird, dass ich das nicht ernst meine und
schiebe direkt nach: „'tschuldige, du weißt ja, wie gerne und oft
ich bissig bin und es nicht so meine. Ich reiße mich zusammen,
schließlich ist das ja ein ernsthaftes Problem.“ Einen Moment lang
schweigt er mich an und ich habe Angst, dass ich den Bogen überspannt
habe, bis er aufspringt und aus dem Raum rennt. Ich kann mir bereits
denken, wohin es geht und folge ihm Richtung Badezimmer. Kurz
überprüfe ich, dass er auch über der Kloschüssel kniet und sich
nicht verletzt hat, warte aber draußen, weil ich weiß, wie peinlich
ihm das ist. Als es nach einer Weile wieder still ist, gehe ich ins
Bad und fülle ihm ein Glas Wasser ab, welches er mir förmlich aus
der Hand reißt, um seinen Mund auszuspülen. Er sagt, er würde sich
gerne hinlegen und ich hole ihm noch schnell den Spezialeimer aus dem
Kellereingang und eile ihm hinterher, damit ihm kein Unfall passiert.
„Fühl dich bitte wie daheim“, nuschelt er mir entgegen, bevor er
sich in seine Decke wickelt und wegdreht. Ich könnte mich ins
Gästebett legen, doch fühle ich mich nicht müde, also gehe ich
zurück ins Wohnzimmer und lasse mich erstmal auf die Couch fallen.
Als Max dann fünf Stunden später mit
zusammengekniffenen Augen seinen Kopf ins Wohnzimmer steckt, ist die
Sonne bereits aufgegangen und ein schöner Frühlingstag zeichnet
sich durch die Vorhänge ab. Allerdings hat er nur Augen für den
Beistelltisch, auf dem seine Flasche Bacardi steht. Ich zucke mit den
Schultern und meine nur: „Sorry Bro, nach der Aktion hatte ich auch
was verdient.“ Er winkt ab und schlurft zu mir. Ich pausiere den
Film, den ich bis gerade eben noch gesehen hatte und gucke ihn
fragend an. „Du warst vorhin noch nicht ganz fertig. Möchtest du
mir den Rest erzählen?“ Er nickt. „Ja, also, wo war ich?“ „Wer
sie denn sei, dass sie denke, dass du mit Sex einverstanden seist“,
schmunzle ich ihn an. „Jaja, mach dich mal lustig. Okay, lange
Rede, kurzer Sinn: Ich habe sie vor die Tür gesetzt und fühle mich
wie der letzte Idiot auf Erden. Ich meine, was ist falsch mit mir?
Ich bin 18, Jungfrau und lasse das Mädchen, auf das ich stehe,
abblitzen. Das ist irgendwie… irgendwie…“ Er reibt sich den
Kopf, Denken war also doch noch recht kompliziert. „Frustrierend?“,
schlage ich vor. „Ja, genau. Frustrierend ist das.“ „Ach
quatsch“, sage ich und bedeute ihm, mir zuzuhören: „Denke mal
drüber nach, das ist doch voll romantisch, süß und herzzerreißend.
Wie ich Nat kenne, wird sie dich nachher anschreiben und bei dir
entschuldigen, sie wisse auch nicht, was sie da geritten habe.“ Er
nickt zustimmend und macht keine Anstalten etwas einzuwenden, also
fahre ich fort: „Sie ist ein Mädchen und muss sich um ihren Ruf
kümmern. Mag sein, dass du ihr nicht vollkommen egal bist, sonst
wäre sie ja nicht zu dir gekommen, sondern hätte einen anderen, nun
ja, sagen wir, besuchen wollen. Aber sie möchte nicht das, was du
dir wünscht. Ergo ist sie nicht, was du suchst. Ich mache es mal
besonders kitschig, du hast was Besseres als sie verdient.“ Ein
Lächeln stiehlt sich in sein Gesicht. „Das gefällt mir, Matt. Ja,
es mag kitschig sein, doch das stört mich nicht.“ Stille breitet
sich zwischen uns aus und es scheint, als hätte ich den Grundstein
dafür gelegt, dass Max endlich mit Nat abschließen und sich neuen
Dingen widmen kann. Doch eine Sache brennt mir noch auf der Seele,
also stupse ich ihn an, setze ein breites Grinsen auf und sage:
„Weißt du, mit der Liebe verhält es sich im Endeffekt doch so wie
mit der Freundschaft.“ Ich lege eine dramatische Kunstpause ein und
er bedeutet mir, ich solle endlich damit rausrücken. „Nun, einen
guten Freund erkennst du daran, dass er immer für dich da ist. Dass
du ihn, keine Ahnung, ich konstruiere mal schnell, nachts um kurz
nach zwei anrufen und zu dir bitten kannst und er wirklich kommt.“
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